Im Kosovo hat die Wirklichkeit viele Wahrheiten …

Hallo zusammen,
ich werde hier nicht viel von meinen persönlichen Einschätzungen und Eindrücken preisgeben, die ich auf der Reise des Ausschusses für Europa und Eine Welt – AEEW – des Landtages von NRW in den Kosovo gewonnen habe, denn, wie der Titel schon sagt, es gibt viele Wahrheiten in diesem Land. Und ich möchte nicht riskieren, dass da eine etwa zu kurz kommt. Wer mag, kann mich zum Thema Kosovo gerne persönlich ansprechen.

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Breitband-Internet in Prizren, Kosovo. Möglicherweise ein Sinnbild zu den Verknotungen der Probleme im Kosovo. Aber nichts, was nicht gelöst werden könnte …

Der Kosovo ist eine multiethnische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem souveränen Staat – mit allen Problemen und Chancen, die das mit sich bringt. Überwiegend muslimische Albaner stellen die Mehrheit. Christlich-orthodoxe Serben bilden die größte Minderheit, daneben leben noch Türken, Bosniaken, Roma und die zu den Roma gerechneten Ashkali und Ägypter im Kosovo. (Wer hier eine Untergruppe von wem ist, wird durch die Gruppen selbst bestritten.) Gut aufgearbeitete Details dazu findet man hier.

Politisch hat mich die Reise ziemlich aus der Kurve getragen und auch nach vorne gebracht, wie auch immer. Ich beschränke mich hier auf die Listung der Stationen der Reise mit punktuellen kurzen Statements dazu.

Ziel der Reise war es, sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen, und das auch vor dem Hintergrund der ehemals zahlreichen Flüchtlinge aus dem Kosovo in Deutschland und in NRW. Mit von der Partie waren 10 Abgeordnete, vier von der SPD, drei von der CDU, 1 grüner MdL, einer der FDP und ich als MdL der Piratenfraktion. Hinzu kamen vier Fraktionsreferenten, ein Mitarbeiter der Staatskanzlei und ein Dolmetscher, also 16 Personen. Die Delegationsleitung hatte Dr. Ingo Wolf von der FDP inne. Seine Repräsentations- und Moderationsaufgaben waren durch eine sehr sympathische souveräne Lässigkeit gekennzeichnet. Das macht Sinn in einem Land, dass in erster Linie mit einem intensiven Prozess der Selbstfindung beschäftigt ist.

Die Stationen der Reise

Am Sonntag, den 24. April 2016 ging’s mit dem Flieger von Düsseldorf direkt nach Priština, in die Hauptstadt des Kosovo. Nachmittags um 15:00 folgte das erste Briefing vor Ort durch Frau Angelika Viets persönlich, die außerordentliche und bevollmächtigte Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland im Kosovo. Sie hat sich in den zwei Jahren ihrer Botschaftstätigkeit im Kosovo den Respekt und die Wertschätzung aller politischen Parteien und Kräfte erarbeitet. Ihr Rat zählt. Ich habe einen Höllenrespekt vor dieser Frau und ihren Aufgaben – in Szenesprache, eine echt taffe Lady!

Beim anschließenden Besuch beim Deutschen Informationspunkt für Migration, Ausbildung und Karriere (DIMAK) ging es in den Gesprächen um Informationen und Chancen für Kosovo-Flüchtlinge aus Deutschland, die in ihre Heimat zurückkehren.

Am Montag, den 25. April fuhren wir morgens zum kosovarischen Parlament, wo wir vom Parlamentspräsidenten, Herrn Kadri Veseli, begrüßt wurden. Im Anschluss trafen wir uns mit dem Europaausschuss des Parlamentes für eine etwa einstündige Gesprächsrunde, der ein Meeting mit dem kosovarischen Europaminister Bekim Çollaku folgte.

Der Kosovo „lebt“ u.a. von Überweisungen in die Heimat von Kosovaren, die im Ausland leben und arbeiten. Was das Land dringend benötigt, sind Investitionen aus dem Ausland, die es wirtschaftlich nach vorne bringen. Daher war wesentlich das Image des Kosovo im Ausland Thema der Gespräche. Es wurde auch über Image-Kampagnen gesprochen. Entgegen landläufiger Vorurteile hier ist der Kosovo relativ sicher. Wie uns eine Einheimische erzählte, kann es passieren, dass wenn man sich z.B. nachts um drei in Priština verläuft, einen hilfsbereiten Kosovaren trifft, der einen persönlich nach Hause, bzw. zum Hotel bringt.

Gerade das Ansehen Deutschlands ist im Kosovo sehr hoch. Die Bundesrepublik war unter den ersten Staaten, die die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannten.

Den Treffen im Parlament folgte ein Mittagessen mit der KFW-Landesdirektorin Frau Esther Gravenkötter.

Im Anschluss besuchten wir das Forum Ziviler Friedensdienst (ZFD) und ein spannendes Projekt der Handwerkskammer Dortmund in Zusammenarbeit mit einer Berufsschule in Priština und der kosovarischen Wirtschaftskammer. Kosovarische Jugendliche werden hier als KFZ-Mechaniker ausgebildet. Meine Enschätzung ist, dass solche Projekte es wirklich bringen, weil sie den Menschen vor Ort direkt helfen. Der Kosovo ist das jüngste Land in Europa. Mit einer Geburtenrate von 2,3 sind mehr als 50% der Kosovaren unter 25 Jahren alt.

Am Nachmittag besuchten wir das Rathaus und debattierten mit Herrn Shpend Ahmeti, dem Bürgermeister von Priština. Er hat sich neben der Verbesserung der städtischen Infrastruktur vor allem den Kampf gegen die Korruption auf die Fahne geschrieben. Die Diskussion war auch insofern interessant, weil seine Partei, die Vetëvendosje! – dt. etwa „Selbstbestimmung!“ – die parlamentarischen Gepflogenheiten – hmm – „sehr frei“ auslegt.

Abends besuchte uns der ehemalige Staatspräsident des Kosovo, Herr Fatmir Sejdiu im Hotel. Wir hatten die Gelegenheit, mit ihm die allgemeine politische Lage auf dem gesamten Balkan offen zu diskutieren.

Am Dienstag, den 26. April besuchten wir zunächst ein UNHCR-Flüchtlingscamp, in dem serbische Inlandsflüchtlinge leben. Direkt im Anschluss fuhren wir nach Mitrovica, einer Stadt im Norden des Kosovo. Dort trafen wir die deutsche EULEX-Richterin, Dr. Katja Dominik, die zusammen mit anderen ausländischen Kollegen nach kosovarischem Recht Recht spricht in Strafprozessen.

Danach besuchten wir ein herausragendes Projekt der Diakonie in Mitrovica. Neben einem Kindergarten, einer Landwirtschaft und diversen Ausbildungsstätten für junge Frauen und Männer wird dort auch ein Zentrum zur Ausbildung von Traumatherapeuten betrieben.

Mitrovica ist eine geteilte Stadt. Nördlich des Flusses Ibar, der die Stadtteile trennt, leben Serben, im Süden Albaner. Der Chef der Diakonie dort regte den Bau eines Jugendzentrums direkt am Fluss an. Dort hat sich eine Tanzgruppe „Urban Dance Crew“ aus jungen Serben und Albanern zusammengefunden unter der Leitung eines 42-jährigen Roma, der die amtlichen geilen Dance-Moves drauf hat. Wir hatten Gelegenheit, eine Live-Performance der Gruppe anzusehen, beeindruckend!

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Die Urban Dance Crew in Aktion

Mich erinnerte das spontan an das Projekt „Rhythm is it!“ von Royston Maldoom und Sir Simon Rattle mit den Berliner Symphonikern, Selbstvertrauen und Chancen für Jugendliche, Sinnstiftung, Musik und Tanz als Verständigung. Man kann natürlich immer fragen, was solche Projekte bringen. Für mich sind sie kleine kulturelle Pflänzchen der Verständigung jenseits der Sprachen, die kräftig gegossen werden sollten.

Es folgte im serbischen Teil der Stadt ein Gespräch mit dem Berlin Center for Integrative Mediation (CSSP).

Im Anschluss besuchten wir zusammen mit Vertretern der kosovarischen Privatisierungsagentur das ehemalige Industriekombinat Trepca. Es laufen Bemühungen, diese Firma wieder auf Vordermann zu bringen, eine echte Chance für den Kosovo.

Denn was hierzulande der Allgemeinheit nicht so bekannt ist, der Kosovo ist ungeheuer reich an Bodenschätzen, die für moderne Hightech-Industrien sehr wichtig sind. Neben Unmengen an Blei- und Zinkerzen gibt es große Vorkommen an Gold und Silber, dazu kommen noch vier sonst sehr seltene Metalle – nein, keine seltenen Erden -, die im Boden in Form von Salzen der Halogen- Gruppe (sog. Halogenide, Verbindungen mit Fluor, Chlor, Brom, Jod und Astat) vorliegen, Germanium, Indium, Tellur und Selen.

Wenn jetzt jemandem im Zusammenhang mit der jüngeren kosovarischen Geschichte und den kommenden Rohstoffknappheiten ein Licht aufgeht, dann kann und will ich das nicht verhindern …

Am Mittwoch, den 27. April fuhren wir in den Südwesten des Kosovo, nach Prizren, und besuchten dort die Soldaten des deutschen KFOR-Kontingents. Der Kommandeur, ein Oberst, gab uns einen Überblick über die Lage im Kosovo und die weiteren internationalen KFOR-Partner, die dort stationiert sind. Die Truppen sind recht beliebt in Prizren, man möchte, dass sie noch eine ganze Weile bleiben, weil ihre Präsenz zur Stabilität beiträgt, beim Aufbau des Landes hilft und vielen Einheimischen Arbeit gibt.

Beim Manövrieren durch die Innenstadt von Prizren riss unser recht hoher Bus zwei tief über der Straße hängende LAN-Kabel ab (siehe Bild oben). Die Reaktion eines Bürgers, „egal, wird eh neu gemacht!“

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Paprika mit Weißkraut gefüllt – fertig für den Export

Danach fuhren wir nach Krusha e madhe. Dort gibt es eine Initiative von albanischen Kriegswitwen, die eine Landwirtschaft mit daran angeschlossener Produktion von Ajvar in zwei Schärfegraden und eingelegten gefüllten Gemüsen – Paprika mit Weißkraut – betreiben. Wir haben dort zu Mittag gegessen, den Frauen und ihren Familien kann man nur einen steigenden Absatz, neben der Schweiz vielleicht auch demnächst in Deutschland, wünschen, ein tolles Projekt.

Am Nachmittag besichtigten wir das Balkan Sunflowers Projekt der RAE (Roma, Ashkali, Egyptians) in Fushe Kosove. Dort erhalten Kinder der drei Minderheiten Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen und können Albanisch und Serbisch lernen. Der Analphabetismus in diesen Gruppen ist unerfreulicherweise immer noch sehr hoch, ein nicht nur sinnvolles sondern auch dringend notwendiges Projekt also. Mehr davon!

Im Anschluss trafen wir uns mit Nenad Maksimovic im Center for Peace and Tolerance in der von Serben bewohnten Stadt Gracanica. Seine direkte Art der Darstellung und seine unverblümte und kritische Sicht auf sein Land lieferte uns Delegationsteilnehmern eine weitere Facette zu der an Eindrücken so reichen Kosovo-Reise.

Ein abendlicher Empfang in der Residenz der Botschafterin mit interessanten Gesprächen mit den geladenen Gästen rundete unsere Reise ab.

Am Donnerstagmorgen ging es per Flieger nach Berlin und von dort per ICE zurück nach Düsseldorf.

Hier noch ein Link zum Reisebericht meines SPD-Kollegen Volker Münchow.

Unser Fraktionsreferent Tom Odebrecht hat ebenfalls einen Beitrag zur Kosovo-Reise verfasst.

Mein Fazit:

So schwer es ist, die Balkanstaaten Kosovo, Serbien, Albanien, Montenegro, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina sollten gemeinsam an einer Verkehrsinfrastruktur für den ganzen Balkan arbeiten und dann ebenfalls gemeinsam in die EU kommen. Bis dahin aber muss sich noch Einiges ändern – nicht nur auf dem Balkan – auch in der EU. Aber das ist eine andere Story.

Bis dann, Nick H. aka Joachim Paul

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