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Odysseus goes CyberSpace,
zur Genese eines Modewortes

von Joachim Paul

 

Dem einzelnen erscheinen die Begriffe unserer Sprache als etwas Bedeutungsfestes, Unverrückbares, in historischer Dimension jedoch entpuppt sich Sprache als eine bewegte See von stetig wechselnden Metaphern.

Julian Jaynes

CyberSpace ist "in". Keine Frage.

Ob als "Datenraum" des Internet, in dem "herumgesurft" werden kann, oder als "Virtuelle Realtät", kurz VR, bezeichnete technisch aufwendige Software-Konstruktion von dreidimensionalen Räumen in einem Computer, die mit Hilfe von HMDs (Head Mounted Displays) und Datagloves (Datenhandschuhen) visuell wahrgenommen, manipuliert und "durchschwebt" werden können.

Etymologisches
Der Ursprung des zweiten Teils des Wortes , "Space", ist recht einfach festzustellen. Es leitet sich her vom lateinischen "Spatium", dt. etwa "Raum", "Zwischenraum", "Zeitraum", das als Ausdruck zur Bezeichnung von "Entfernung" verwendet wurde. Obwohl die lateinische Sprache auch über ein eigenes Wort für Zeit, "Tempus", verfügt, spiegelt sich unsere heutige klare Trennung zwischen den Begriffen "Zeit" und "Raum" im Wort "Spatium" noch nicht. Dies leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich vor Augen führt, daß die Überwindung einer größeren räumlichen Distanz für die Wahrnehmung des antiken Römers immer auch einen nicht unerheblichen Zeitaufwand mit sich brachte.

Das Präfix "Cyber" wird heute allzu gern als Bestandteil von Titelschlagzeilen und für die Komposita-Bildung für alles, was in irgendeiner Form eine elektronische Komponente beinhaltet oder beinhalten soll herangezogen: CyberCash, CyberDemokratie, CyberSex, CyberMarketing, usw. Suggeriert es doch Hype, Modernität, Up-to-Date-Sein, sowie ein Gütesiegel für technische Innovation.

Der Witz ist: Das Wort ist ungeheuer alt, selbst in geschichtlicher Dimension, und hat mit Elektronik und elektronischen Medien zunächst rein gar nichts zu tun.

Daher ist sein Ursprung und die sprachliche Evolution hin zum "CyberSpace" nicht ganz so einfach nachzuzeichnen, wie etwa der des Wortes "Computer", das sich vom lateinischen "computare", dt. "berechnen", herleitet und zum ersten Mal im Sinne einer "rechnenden Maschine" von Leibniz verwendet wurde. Vielmehr steckt in der Genese dieses Wortes ein verwinkelter, mit "Umwegen" behafteter historischer Prozess, der geradezu typisch ist für die Art und Weise, in der - nicht nur heute - neue sprachliche Begrifflichkeiten entstehen, bzw. entstanden sind.

Unser Weg führt uns noch einmal ins Altertum, diesmal nach Griechenland. Das altgriechische "Kybernétes" ist gewissermaßen eine antike Berufsbezeichnung und bedeutet "Steuermann", bzw. Kapitän eines Schiffes. Diesem Wort beigeordnet ist die Fertigkeit des Steuerns, die Steuermannskunst, "kybernetiké", das mit "techné", sinngemäß etwa "Machen mit der Hand, Fingerfertigkeit", verwandt ist, und aus dem sich unser Wort "Technik" ableitet. Wir haben es also mit der manuellen Tätigkeit sowie der Koordination des Steuerns und Regierens eines Schiffes auf hoher See zu tun, Irrfahrten gleich inbegriffen, denkt man an den berühmten "Kybernetes" Odysseus. In etwas abstrakterer Diktion bezeichnet "kybernetiké" also die Befähigung, sich - autonom - durch eine ständig ändernde Umgebung - hier das Bild von der hohen See mit all ihren Tücken - zu bewegen, ein Regelungsvorgang im weitesten Sinne. Dieses vermögen jedoch nur Lebewesen, ergo hat "kybernetiké" etwas mit Leben "an sich" zu tun!

Entstehungsprozesse
Die nächste Station der Evolution des Wortes "CyberSpace" liegt in den USA derDie Publikation Wieners Mitte unseres Jahrhunderts. Der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener war sich der antiken Bedeutungen durchaus bewußt, als er nach einer entsprechenden Begrifflichkeit suchte und im Jahre 1948 sein berühmt gewordenes Grundlagenwerk "Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine" veröffentlichte (dt.: Kybernetik: oder Regelung und Kommunikation in Lebewesen und Maschinen) [1].

Übrigens: Im anglo-amerikanischen Sprachraum wird das Wort "Control", obwohl vom selben Ursprung wie unser deutsches "Kontrolle" (eine Zusammenziehung des frz. "contre-rôle", 18. Jahrh., etwa "Gegenrolle", "Gegenregister"), grundsätzlich anders und mehr im Sinne von "Regelung" verwendet.

Das Ziel, das Wiener mit seiner mathematisch und philosophisch ausgerichteten Publikation über Regelkreise und Rückkoppelungsmechanismen verfolgte, war unter anderem die Schaffung und Definition einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, auch im Sinne einer Abgrenzung zu den bereits etablierten akademischen Fächern.

Wie das? Einem einzelnen soll es gelingen, einen neuen Begriff, hier den der Kybernetik in den - zunächst noch akademischen - Sprachgebrauch zu bringen? Keineswegs. Der neue Begriff wurde zwar von Wiener vorgeschlagen, jedoch erst durch einen demokratischen Konsens im besten Sinne etabliert.

Die "Schuld" daran trägt der Physiker Heinz von Foerster mit seinen damals noch bescheidenen Englischkenntnissen, der 1949 aus Österreich kommend in die USA einwanderte. Doch lassen wir ihn selbst erzählen: "Als Gast der 6. Macy-Konferenz am 24. und 25. März 1949 war ich von der Geschäftssitzung dieses Abends ausgeschlossen. Als man mich jedoch wieder hineinbat, verkündete mir der Vorsitzende Warren McCulloch, daß man aufgrund meiner schlechten englischen Sprachkenntnisse bemüht sei, für mich eine Möglichkeit zu finden, wie ich mir diese Sprache möglichst schnell und gründlich aneignen könnte. Und, wie man mir sagte, hätte man eine Möglichkeit gefunden. Mir wurde aufgetragen, den Sitzungsbericht der Konferenz zu verfassen, der so schnell wie möglich herausgegeben werden sollte. Ich war völlig platt! Nachdem ich mich wieder gefaßt hatte, sagte ich, daß mir der Titel der Konferenz "Zirkulär-kausale Rückkoppelungsmechanismen in biologischen und sozialen Systemen" zu schwerfällig erscheine, und ich mir überlegt hätte, ob diese Konferenz nicht einfach "Kybernetik" heißen und die gegenwärtige Bezeichnung als Untertitel benutzt werden könnte. Als dieser Vorschlag unmittelbar und einstimmig unter Gelächter und Applaus begrüßt wurde, verließ Norbert Wiener mit feuchten Augen den Raum, um seine Ergriffenheit zu verbergen." [2]

Warum diese längere Anekdote? Vordergründig betrachtet wurde hier die Keimzelle für die Verbreitung eines neuen Begriffes geschaffen, dessen wissenschaftlicher Gegenstand das "Wirkgefüge" in biologischen und sozialen Systemen ist. Was jedoch zwischen den Zeilen von Foersters hindurchschimmert, sind Ansätze zu einer neuen Kultur des Handelns und Denkens, die sich allein schon darin widerspiegelt, daß demjenigen mit den geringsten Englischkenntnissen die Abfassung des Konferenzberichtes übertragen wird, und zwar damit er Englisch lernt!

Ursprünge
Diese neue Kultur, wichtig für ein tieferes Verständnis der Wortneuschöpfung "CyberSpace", hatte ihre Initialzündung allerdings nicht in der Publikation Wieners, sondern in zwei kürzeren schon 1943 und 1944 getätigten Veröffentlichungen des bereits erwähnten Neurophysiologen Warren McCulloch. Diese Arbeiten haben beide die "Errechnung" von Reaktionen auf die Umwelt in den Nervensystemen von Lebewesen zum Thema. Die erste Publikation, zusammen mit dem Mathematiker Walter Pitts, "A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity", lieferte hierzu ein erstes mathematisches Modell [3]. In "A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets", zu deutsch etwa "Eine Heterarchie der Werte, gegeben durch die Topologie von Nervennetzen" widmet sich McCulloch der Frage nach der Ordnung in Nervensystemen und kommt, beeinflußt durch eigene Untersuchungen am Rückenmark von Fröschen, aus der Beobachtung zu dem Schluß, daß in der Topologie von Nervensystemen überhaupt keine Ordnung - im Sinne einer Hierarchie - angelegt ist! [4] Embodiments of Mind, Warren S. McCullochAls auch in der europäischen philosophischen Tradition sehr gebildeter Denker - Heideggers "Sein und Zeit" stand bei McCulloch nicht nur im Bücherregal - konstruiert McCulloch den Begriff der Heterarchie im Sinne von "Neben-Ordnung" oder "Ko-Ordination" als Gegensatz zur Hierarchie ("hierarchia", altgriech. etwa "gottgewollte Ordnung, Priesterherrschaft"). Mehr noch, eine Beschreibung der Aktivitäten eines Nervensystems ist mit den Mitteln der klassischen binären Logik allein nicht möglich. Was für ein Trost! Obwohl es weiterhin hartnäckig versucht wird ....

Jedwedes Lebewesen, ob Mensch oder Frosch, "funktioniert" also demnach nicht über eine hierarchische Organisation. Dieser Umstand kann an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden. Eines der zentralen, weit "oben" in der Ordnung des menschlichen Organismus befindlichen Regelkreissysteme ist die Rückkoppelungsschleife für die Körpertemperatur. Sie sorgt bei wechselnden Umweltbedingungen für die annähernd konstante mittlere Temperatur von 37°C. Geschieht jedoch eine bakterielle Infektion, weist das Immunsystem den Temperaturregler an, den Sollwert der Körpertemperatur anzuheben, um die biochemischen Reaktionen zur Vernichtung der Erreger zu begünstigen. Fieber aufgrund von Infektion ist in dieser Betrachtung also eine gesunde Reaktion! Sind die Erreger ausgemerzt, gibt das Immunsystem die "Führung" des Temperaturreglers wieder ab. Leben ist also ein Prozess, der als stetes Wechselspiel von Hierarchie und Heterarchie betrachtet werden kann. In Lebewesen ist keine durchgängige Hierarchie angelegt.Ein auch "Strange Loop" genanntes, heterarchisches Elementarnetz mit doppelter Schließung

Ein auch "Strange Loop" genanntes, heterarchisches Elementarnetz mit doppelter Schließung
Die drei Rückoppelungsschleifen sind über eine weitere miteinander vernetzt. Diese Topologie ist in der Ebene nicht kreuzungsfrei darstellbar, sondern muß auf eine im Raum doppelt geschlossene Fläche, einen Torus, verbracht werden.

Doch Vorsicht! Den neuen Begriff der Heterarchie etwa mit Chaos oder Unordnung gleichzusetzen, geht am Thema völlig vorbei. Und zwar besteht das Problem darin, daß wir Menschen uns "Ordnung" immer als etwas hierarchisches, mit einem "Oben" und einem "Unten" behaftetes vorstellen, ganz einfach deshalb, weil für die Heterarchien, die "Neben-Ordnungen" noch Begriffe und Vorstellungen fehlen. Diese müssen erst entwickelt werden. Denn wird der Blick einmal auf die Lebenswirklichkeit auf unserem Planeten gelenkt, muß konstatiert werden, daß wir es nahezu überall mit Hierarchien unterschiedlichster Couleur zu tun haben, ein weiteres Indiz für das Fehlen der Vorstellung anderer Ordnungsprinzipien.

Vielfältige Interpretationen
Schauen wir uns für weitere Schlußfolgerungen einmal die Definitionen für Kybernetik an, die von anderen führenden Vertretern dieser Denkrichtung geäußert wurden, und die ausnahmslos für eine Erweiterung unseres Ordnungsbegriffes stehen; so z.B. Gregory Bateson, Anthropologe, Verhaltensforscher an Delphinen und "Vater" der Familientherapie: "Kybernetik ist ein Zweig der Mathematik, der sich mit den Problemen der Regelung, der Rekursivität und der Information beschäftigt." Oder Stafford Beer, Wirtschaftswissenschaftler und Management-Lehrer: "Kybernetik ist die Wissenschaft von der effektiven Organisation." Eine der wohl abstraktesten Feststellungen stammt von dem britischen Psychologen Gordon Pask: "Kybernetik ist die Wissenschaft von den vertretbaren Metaphern." Es scheint also, als wenn Kybernetik für die unterschiedlichsten Menschen, ausgestattet mit jeweils individuellen Reichtümern an begrifflichen Grundlagen, auch etwas verschiedenes bedeutet; nebenbei bemerkt hat jeder dieser Kybernetiker keine Akzeptanzprobleme mit der Definition eines Anderen. Allen gemeinsam ist ein zentrales Thema, das der Zirkularität oder Selbstrückbezüglichkeit. Besonders deutlich wird dies in einer auf einem Kongress gefallenen Äußerung der Anthropologin Margaret Mead: "Ich beziehe mich nicht darauf, wie unter rebellierenden Jugendlichen Kleidung an die Stelle der mimeographischen Maschine als eine Form der Kommunikation getreten ist." Und ein paar Sätze weiter heißt es:" Insbesondere möchte ich auf die Bedeutung der interdisziplinären Begriffe hinweisen, die wir anfangs als ‘feed-back’, dann als ‘teleologische Mechanismen’ und dann als ‘Kybernetik’ bezeichnet haben - eine Form interdisziplinären Denkens, die es den Mitgliedern vieler Disziplinen ermöglicht hat, miteinander in einer Sprache zu kommunizieren, die alle verstehen konnten." [2]

Spätestens hier wird deutlich: In der in den vierziger Jahren in den USA entstandenen Kybernetik ist mit der Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften radikal Schluß gemacht worden. Allein der Durchsatz fehlt. Dennoch, kybernetisches Gedankengut, meist repräsentiert durch "Wirkstrukturen", findet sich heute, 55 Jahre später, in revolutionären Arbeiten innerhalb der Biologie, der Kognitionswissenschaften, der Familientherapie, der Psychologie, der Computerwissenschaften und der Managementlehren wieder, um nur einige zu nennen. Paul Watzlawick ist z.B. ein populärer Epigone der ersten Kybernetiker, ebenso wie der für seine schönen Ökologie-Simulationen und -Spiele bekannte Frederic Vester.

Die kybernetische Konsequenz
In letzter philosophischer Konsequenz ist mit Gotthard Günther folgendes zu konstatieren: "Da man immer wieder hört, daß Computer zwar vieles leisten, aber daß es ihnen grundsätzlich unmöglich ist, im schöpferischen Sinne tätig zu sein, so ist auf dem Erkenntnisgrund der Kybernetik zu sagen, daß, wenn jemand eine solche Behauptung aufstellt und finiter und präzise sagen kann, was er unter "schöpferisch" versteht, dann kann der Ingenieur eine Maschine bauen, die diese Eigenschaft besitzt. Ist aber der Skeptiker nicht in der Lage, genau anzugeben was er meint, dann ist es ganz unsinnig, vom Kybernetiker zu erwarten, daß er etwas konstruiert, was für ihn ein undefinierbares Geheimnis bleiben soll." [5]

Hieraus wird deutlich, daß die leidige Diskussion darüber, ob Computer schöpferisch sein können oder nicht, weder im positiven noch im negativen Sinne entschieden werden kann, weil die Fragestellung auf dem Boden der Kybernetik völlig überholt ist! Die Frage fußt nämlich auf der klassischen Spaltung von "Körper" und "Geist" (einer hierarchischen Ordnungsrelation!). Die Kybernetik nimmt hier weder die idealistische noch die materialistische Perspektive an, sie steht jenseits davon und zeigt Wege in neue philosophische Landschaften des Denkens, in denen den klassischen Dichotomien "gut und böse", "Geist und Materie", "Form und Inhalt", "rational und emotional", "Alpha und Omega", sowie den logischen Wertzuweisungen "wahr und falsch", also all den Ergüssen der abendländischen Philosophiegeschichte mit ihren unverrückbaren Mauern der zweiwertigen, aristotelischen Logik und der sie fundierenden Metaphysik, der Absolutheitsanspruch verweigert ist. Was bleibt, sind nackte komplexe Wirkgefüge von operationell geschlossenen Regelsystemen, die je nach Problemstellung mit Inhalt gefüllt werden; Kybernetik ist im besten Sinne transkulturell, sie hat sich ihres kulturellen Backgrounds entbunden und repräsentiert etwas eigenständiges, genau wie jene Nachkriegs-Exileuropäer, die sie auf amerikanischem Boden "konstruiert" haben und den "Göttern" der alten Welt mit dem Odysseuswort "Niemand hat Dich geblendet!" ins Gesicht lachten.

In dieser transkulturellen Eigenschaft der Kybernetik finden wir eine erste Analogie zum CyberSpace, hier als "Datenraum" des Internet begriffen, dessen Funktionieren ja nicht auf nur einen Kulturkreis beschränkt ist.

Transkulturelles und der Ursprung des Cyberspace
Eine weitere viel tiefer greifende kann im literarischen Werk des Science Fiction Autors William Gibson entdeckt werden. Ende der siebziger Jahre prägte er den Begriff "CyberSpace". Er schickt in der Romantrilogie "Neuromancer" seinen Helden Case (man beachte den Namen, der in Programmiersprachen als Befehl für Entscheidungsverzweigung verwendet wird!) durch ein vieldimensionales Datenlabyrinth, das kein "Oben" und kein "Unten", keinen "Anfang" und kein "Ende", also keine hierarchische Ordnung besitzt [6]. Als moderner Odysseus generiert Case seinen Weg durch das Labyrinth mittels seiner Entscheidungen selbst, er verändert es, erzeugt es gewissermaßen durch sein Hindurchwandern, und das Labyrinth erzeugt ihn an jedem "Ort" neu, das ist Rückkoppelung schlechthin!

Im hypertextuellen System des Internet und in den Newsgroups, den elektronischen Pinwänden, verhält sich dies ähnlich, die Frage nach der individuellen Identität wird hierdurch - im Kontext des Datennetzes - neu gestellt, und keine Ariadne hilft mit einem Faden, kein Minotaurus lauert hinter der nächsten Ecke (obwohl viele Bill Gates dafür halten).

Der erste, der den Begriff "CyberSpace" für die Verknüpfung von Computertechnologie mit Telekommunikation heranzog, war der Journalist und Medienphilosoph John Perry Barlow, einigen wenigen noch bekannt als Texter der US-Rockgruppe "The Grateful Dead". Er grenzte ab und "erklärte" das Datennetz kurzerhand zu einer qualitativ neuen Welt, für die neue Metaphern, neue Regeln und neue Verhaltensmuster zu entwickeln sind [7]. Seinen Auftritten in den klassischen Medien ist es zuzurechnen, daß dieser Begriff schnell von führenden Zeitschriften wie Time und Scientific American, sowie von Wissenschaftlern, Datenschützern und Hackern übernommen wurde.

Wir haben gesehen, daß dem Begriff "CyberSpace", der mit "Steuerraum" denkbar schlecht übersetzt wäre, durchaus eine tiefere Bedeutung zugeteilt werden kann, die weit über Schlagworte wie CyberMarketing und CyberCash hinausgeht. Letztere sind bloße Übernahmen und spiegeln den Wunsch wider im CyberSpace "Internet" Marketing und Cash zu machen, warum auch nicht?

Hoffnungen und Hemmschuhe
Betrachtet man das Datennetz auf der einen und unsere Voraussetzungen auf der anderen Seite einmal nüchtern ohne die rock’n-roll-revolutions-romantischen Attitüden von Gibson und Barlow, dann muß folgendes festgehalten werden: Die bisherige elektromagnetische Welt von Radio und Fernsehen kennt - aus technischen Gründen - wenige Sender und viele Empfänger. Das Internet ist grundsätzlich anders. Zum ersten Mal in der Geschichte verfügen wir mit dem "CyberSpace" über ein Medium, kein unidirektionales Massenmedium, das für jeden Teilnehmer Senden und/oder Empfangen zuläßt, und das über beliebige geographische Entfernungen. Durchaus im kybernetischen Sinne ist hier die althergebrachte (Medien-) Hierarchie durchbrochen. Aber: Wir sind durch die Prägungen der alten Medien zu Konsumenten erzogen und müssen das Senden erst wieder lernen und/oder lehren. Vilém Flusser bringt es auf den Punkt, wenn er die Vernetzung von Menschen wider die mediale Verbündelung durch die Massenmedien setzt [8]. Bloße Technikverweigerung hilft hier nicht weiter, sondern gibt der Technokratie Raum und versperrt den Weg in ein technisches Zeitalter.

Das weltweite multimediale Datenlabyrinth ist gleichzeitig Generiertes und Generierendes für den modernen Odysseus. Es ist eine babylonische Säkularisierungsmaschine und kann uns uns selbst und einander näher bringen, der (schmerzhafte) Königsweg zu einer (vielleicht) planetarischen Zivilisation. Seine normative Kraft liegt im Entnormierenden. Erst dann würde eine Geschichte der Menschheit als Ganzes überhaupt erst anfangen.

Oder, um mit dem Kybernetiker Heinz von Foerster zu sprechen: "Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden."

Ja, es braucht Mut, ein Odysseus zu sein.

Für Lesewütige:
[1] Norbert Wiener, Cybernetics: or Control and Kommunikation in the Animal and the Machine, Massachussetts Institute of Technology Press, Cambridge Mass., 1948 totext.gif (902 Byte)

[2] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve Verlag Berlin, 1993 totext.gif (902 Byte)totext.gif (902 Byte)

[3] Warren St. McCulloch, Walter Pitts; A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity, Abdruck in: Embodiments of Mind, Warren St. McCulloch, MIT Press, Cambridge Mass., 1970 totext.gif (902 Byte)

[4] Warren St. McCulloch, A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets, Abdruck in: Embodiments of Mind, Warren St. McCulloch, MIT Press, Cambridge Mass., 1970 totext.gif (902 Byte)

[5] Gotthard Günther, Selbstdarstellung im Spiegel Amerikas, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1978 totext.gif (902 Byte)

[6] William Gibson, Neuromancer, 1984, dt. Neuromancer, Heyne Verlag, München 1987 totext.gif (902 Byte)

[7] Stefan Bollmann, Einführung in den CyberSpace, in: Kursbuch Neue Medien, Bollmann Verlag, Mannheim 1995 totext.gif (902 Byte)

[8] Vilém Flusser, Verbündelung oder Vernetzung? in: Kursbuch Neue Medien, Bollmann Verlag, Mannheim 1995 totext.gif (902 Byte)

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zuerst publiziert im Medienbrief 2, 1998,  Medienzentrum Rheinland
Last modified: June 22, 1998
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