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Das Hungertuch

2005

Hungertuch-Startseite

Die Laudatio auf die Preisträger von Dr. Enrik Lauer

 

Holger Benkel
aus Schönebeck an der Elbe
erhält in Anerkennung seines lyrischen Werks
das Hungertuch für Literatur 2005

 

Holger Benkel verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungs-möglichkeiten, die anderen fehlen. Seine Biographie erscheint als Zwischenexistenz, als interkulturelle Existenz, aber sie dient ihm der produktiven Herausforderung und nicht irgendeiner 'Verostung'. Für jemanden, der auf dem Land zu Hause ist und der die Welt der Arbeit ganz genau kennt, der Schreibkrisen hinter sich hat und erst spät entdeckt wurde, scheint das Bild des Außenseiters wie geschaffen. Bei Holger Benkel sind Selbstwahrnehmung und öffentliches Rollenklischee schon früh miteinander verschmolzen. Der anhaltinischen Provinz, in der er geboren wurde, hält er bis heute die Treue. Auch die meisten Bewohner von Schönebeck haben sich inzwischen arrangiert mit dem schreibenden Nachbarn. Mit seinen Gedichten hat er dort Fährten eingezeichnet, die nicht so schnell verblassen dürften. Von westlichem Verschwörungsdenken ebenso weit entfernt wie von östlicher
Zerknirschtheit, betreibt er eine Archäologie der Lebens– und Seinsformen in der ehemaligen DDR und im Nachwendedeutschland. Die literarische Gestaltung gesellschaftlicher Zustände und Prozesse kann indes beinahe nur gelingen, wenn man sie sich nicht dauernd vornimmt, sondern vielmehr aus der eigenen Erfahrung heraus schreibt.

Geschichte ist für Benkel niemals endgültig erforscht. Jede Generation schreibt sie neu, sucht neue Perspektiven der Annäherung. Eine Gesellschaft versteht nur jene Erinnerungen, die sie in einem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann. Für ihn sind Symbole keine feststehenden Bedeutungszeichen, sondern Substanzen, die sich in einem permanenten Prozeß befinden, der sie wandelt und worin sie selber immer wieder Facetten bilden.

Die Idee des Sonderlings liegt auch in Benkels Stil und seiner Art des Weltzugangs begründet. Man muß sich erst gewöhnen an diese Sprache, an diesen Ton, der von weit her kommt. Bei Benkel kann man sich im wahrsten Sinne des Wortes erlesen, was Dichtung in einem emphatischen Sinne einmal gewesen ist – für einen Lenz, für einen Hölderlin, für einen Trakl. Es schleichen sich auch dunkle Töne in die Gedichte ein. Benkels lyrisches Ich weiß um die Schattenseiten der Natur und benennt die Verwerfungen der Geschichte und versucht Motivfelder, die ihm zufallen, zu gestalten. Seine Kunsttheorie nimmt die Antike als Basis, um in der Folge den Verfall zu diagnostizieren.

Seine utopischen und apokalyptischen Gedanken – und beides scheint ja zusammenzugehören – sind aus antiken und jüdischen Quellen gespeist. Expressionistische Dichter, die ihn früh anregten, haben im 20. Jahrhundert die bildungsbürgerliche Denkwelt und Ästhetik demontiert und zertrümmert. Im 21. Jahrhundert wird sich das kaum wiederholen lassen, weil der Bildungsbürger ausgestorben ist. Hier helfen keine Bilder über die Worte hinweg, die man nicht versteht. Hier gibt es nur Worte. Viele sind so obskur, daß nicht mal Muttersprachler genau wissen, was sie bedeuten. Seine literarischen Figuren bewegen sich durch Zwischenreiche. Die Beleuchtung wechselt von gleißender Helle zu tiefer Dunkelheit, die Temperatur von heißen Wirbeln zu eisig starrer Kälte. Das Tempo des Wechsels ist schnell. Seine Gedichte halten den Moment des Vorgangs fest, in dem der Wandel geschieht. Benkel sieht im Archaischen Modernismen und im modernistischen Schreibansatz Urformen des Dichtens wirksam werden. Seine Texte lesen bedeutet, an der richtigen Stelle Komplexität reduzieren. Keine Bildungshuberei, wenn sie gegen einen arbeitet. Benkels impressionistische Streifzüge bewahren ihre schöne Rauheit.

Matthias Hagedorn, Bismarkturm, Sommer 2005