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Die Sache mit der weichen Ware,
ein Plädoyer für selbsterzeugte Lernumgebungen

 

von

Joachim Paul

 

Welche Anforderungen muss eine gute Lernsoftware erfüllen, welche Kriterien sind an sie zu stellen? Die Frage – gleichwohl oft gestellt – geht von falschen Voraussetzungen aus, sie suggeriert, als seien bestimmte technische Kriterien oder didaktische Elemente und deren Vorhandensein, bzw. Erfüllung Garanten für „gute Software“, deren Benutzung den Lernerfolg dann nahezu zwangsläufig nach sich zieht. Eine solche Art der Betrachtung – dem „Zeitgeist“ entsprechend weit verbreitet – bleibt buchstäblich an der Benutzeroberfläche. Die Tiefendimensionen werden verkannt.

Diese bestehen nicht unwesentlich im Zusammenspiel des Nutzers mit der Software. Halten wir also zunächst einmal fest: Gemessen am Lernerfolg als entscheidendem Kriterium ist eine Software immer nur so gut oder schlecht, wie der Lehrer oder Schüler, der damit arbeitet.

Es mutet jedoch an, als bilden sich prinzipiellere Fragestellungen und Auseinandersetzungen um die Themen Wissen und Bildung in die auf dem Markt angebotene Lernsoftware ab. Ein später Auswuchs der Industriegesellschaft ist es nämlich, der uns hier zu schaffen macht. Dieser zeigt sich besonders deutlich im Bereich der Erwachsenenbildung in der angebotenen Software für die berufliche Weiterqualifikation. Softwaretools und -Trainer, oft sogenannte geschlossene Lernumgebungen, dienen hier ausschließlich der Sicherstellung und dem Ausbau der Produktivkraft des Mitarbeiters, die Bildung – als eigene Qualität im Hegel’schen Sinne des Vermögens, die Dinge auch vom Standpunkt eines anderen aus betrachten zu können – bleibt hierbei kläglich auf der Strecke. Und die Produktivität letztlich auch, nämlich spätestens dann, wenn Methodisches wie z.B. kommunikative Kompetenz gefragt ist.

Und nun drohe diese „Mechanisierung der Wissensaneignung“ über Computer und Lernsoftware auch noch das Fundament unseres Bildungssystems, die Schule, zu erfassen, so etwa lautet die Kritik der Gegner z.B. der Einführung von Computern in die Grundschule, wenn sie sich gewählt ausdrücken. So falsch ist diese Befürchtung vielleicht nicht, es wird allerdings wiederum verkannt, dass es ja letztlich am Nutzer, also an den Lehrerinnen und Lehrern liegt, wie Computer und Co. engesetzt werden. In diesem Verkennen liegt bereits eine stillschweigende Akzeptanz des Mechanisierungs-aspektes. Das hat man dann mit den – vielleicht aus der Politik oder der Wirtschaft stammenden – der Technikbejubelung anheim gefallenen gemeinsam.

Vergessen wird ebenfalls gerne die ursprüngliche Bedeutung von Schule in der vorindustriellen Gesellschaft, an die uns Vilém Flusser in seinem Essay „Unsere Schule“ aus dem Jahr 1982 erinnert [1]. „Schole“ bedeutet „Muße“ und kennzeichnet damit die Schule als einen Ort der zunächst zweckentbundenen Kontemplation und der Anschauung.

Auch Hartmut von Hentig warnte 1996 vor einer Instrumentalisierung der Schule: „Solange ihr Bildung mit Laufbahn oder mit sozialpädagogischer Aufbewahrung oder mit der Sicherung des jeweiligen Industriestandortes verwechselt, ... ist die Krise noch nicht weit genug fortgeschritten“ [2], eine Warnung, die durch die PISA-Studie sicher neue Aktualität bekommen hat. Es ist jedoch der Standpunkt des Humanismus aus einer Zeit, in der Bildung wohlhabenden Müßiggängern vorbehalten war, der hier in von Hentig zu Wort kommt, dieser Standpunkt sieht nämlich ganz zwangsläufig einen Gegensatz zwischen Bildung und Laufbahn – hier im Sinne von Arbeit verstanden. Heute wissen wir, dass dieser Gegensatz ein konstruierter ist, und zwar auf der Basis der im frühen 19. Jahrhundert vorherrschenden Vorstellungen von der Antike.

Und nun stehen sich wieder einmal zwei Postionen zusammen im Konzert mit ihren feineren Abstufungen gegenüber, die eine sieht in Schule eine Insel des Wahren und Guten und des Bildungsideals der Aufklärung, die es zu verteidigen gilt, die andere eine Institution zur Produktion von „Human Resources“ für die Wissensgesellschaft, die sich gefälligst zu öffnen und nach den aktuellen wirtschaftlichen Randbedingungen und Erfordernissen zu richten und Wissen „on Demand“ zu vermitteln habe.

Und nicht von ungefähr wird im gleichen Konzert, gewissermaßen als Begleitstimmen im zweiten Glied, das Lied von den offenen und geschlossenen Lernumgebungen – realisiert in Software – gesungen. Die Adjektive „offen“ und „geschlossen“ stammen hierbei allerdings aus der Feder von Didaktikfachleuten und Programmentwicklern. Vom Nutzer der Software aus gesehen ist eine Lernumgebung grundsätzlich offen, er muss sich dessen nur bewusst sein. Es liegt letztlich an ihm, wie und vor allem ob er das Produkt und die Computer einsetzt. Ist eine Software in Ihren inhaltlichen, technischen und didaktischen Optionen allzu restriktiv, hat er immer noch die Freiheit, nein zu sagen zu diesem speziellen Lernmittel und damit die „Umgebung“ wieder zu öffnen für etwas Neues.

Eine richtigere und mehr an der Praxis orientierte Fragestellung müsste also lauten, was die Kriterien sein sollen und wie eine Software beschaffen sein muss, um die geeignete Wahl eines Nutzungsprozesses zu ermöglichen und zu erleichtern. Vom Softwareproduzenten wird hierdurch Bildung im zuvor genannten Hegel’schen Sinne gefordert, er muss sich in seine Nutzer hinein versetzen und möglicherweise verschiedenste Nutuungsprozesse bei der Produktion der Software gleich „mitdenken“.

Ein ganz entscheidender Punkt sollte bei der Konzeption von Lernsoftware etwas sein, dass man vielleicht mit dem Begriff „Anschlussfähigkeit“ bezeichnen kann. Zwei Arten von Softwaremedien sind von „Natur aus“ anschlussfähig, die Enzyklopädie und die Materialsammlung. Ausgedrückt in technischen Termini heißt dies, das zu einer guten Materialsammlung eine Liste kommentierter Hyperlinks ins WWW gehört zum Thema und evtl. zu weiterführenden Themen, also ein – wenn man so will – moderierter Anschluss, der dem Nutzer das Selbstsuchen im Internet zunächst abnimmt, aber eben auch eine kommentierte Vorauswahl trifft. In einem weiteren Schritt kann der Nutzer oder eine Lerngruppe dann selbst entscheiden, inwieweit ein Lernthema durch zusätzliche Recherchen noch ausgeweitet werden soll [3].

Ein weiterer Aspekt des Anschlusses mag im aktiv-produzierenden Umgang mit einem Medium liegen, einem Vorgang, in dem ein Medium – oder eine Software im weiteren Sinn – selbst eine Modifikation erfährt. Über die Trias [ Applikation – Dekonstruktion – Rekonstruktion ] werden das Medium – oder meist Teile davon – selbst verändert. In der Praxis kann dies die Nutzung eines Textbausteins, eines Bildes oder eines anderen Elementes in einem veränderten Kontext sein.

Zwei Aspekte gehören hierbei hervorgehoben: Begreift man Software erstens und etwas weiter gefasst als „Hypertext“, so ist die Anschlussfähigkeit eines Mediums, einer Software gleichzusetzen mit der Möglichkeit nun im Kontext Schule, den Hypertext mit anderen neuen Autoren, nämlich mit Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern selbst fortzuschreiben. Hypertext lebt erst durch Fortschreibung.

Zweitens läßt sich sagen, dass durch den Prozess der o.g. Trias hinter das Verfahren der medialen Abbildung geblickt wird. Die Lerngruppe gewinnt durch die Beschäftigung mit einem Medium, mit einer Software Abstand zum Medium selbst und damit reflexives Niveau. Wenn tatsächlich etwas dran ist, an Marshall McLuhans Metapher von den heissen und kalten Medien [4], so bedeutet die Beschäftigung einer Lerngruppe mit einem Medium einen Abkühlungsprozess, in dem reflexive Distanz gewonnen wird, oder anders gewendet inhaltliche Medienkompetenz.

Was hierüber entsteht, ist ein Lernort Schule, an dem Gesellschaft - in ihren Formen von Kultur und Technik, die eben über Software im weitesten Sinne vermittelt werden können – schöpferisch und spielerisch reflektiert und (um-)gestaltet, reprogrammiert wird [1], ein Lernort, der „Insel“ und „offenes Haus“ zugleich ist, ein aktiver Knoten im Netz.

Und an der privatwirtschaftlich produzierten Software wird sich explizit ablesen lassen, wie man sich Schule vorstellt.
 

Referenzen

[1] Vilém Flusser, Unsere Schule, Essay, in: Nachgeschichte; Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Fischer, Frankfurt 1997, erstveröffentlicht unter dem Titel „Pós-história“ 1982 bei Duas Cidades, São Paulo
[2] Hartmut von Hentig, Bildung, Ein Essay, München 1996
[3] Riikka Pyysalo, Katja Kruppa und Heinz Mandl, Problemorientiertes Lernen in computergestützten Lernumgebungen: Internationale best-practice Beispiele, Praxisbericht Nr. 25, April 2001, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie
[4] Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, Understanding Media, Econ 1968, Düsseldorf, S. 44ff.