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       Joachim Paul 
      aus Neuss 
      erhält in Anerkennung seines künstlerischen Werks 
      das Hungertuch 2011 
        
      Wer dem Wort zugetan ist – und damit der 
      Sprache, dem Geist und der Vernunft der darf mit Fug und Recht 
      Buchstabenmensch genannt werden. Von einem Homme de lettres erwartet man 
      ebenso wie vom Scharfrichter, daß er sich ständig entschuldigt. Dieser muß 
      Abbitte leisten, weil er zu tödlich ist, jener, weil er nicht tödlich 
      genug ist. Joachim Paul setzt sich bewußt mit seinen Essays zwischen die 
      Stühle, weil er gegen den intellektuellen Mainstream bürstet. Er weist 
      damit den Verdacht zurück, seine Essays seien zu klein und zu 
      nebensächlich, eine seltsame, längst veraltete Form des Journalismus.  
       
      Falls ich richtig gezählt habe, sind bei der Gattung „Essay“ drei 
      Haupttypen auszumachen, alle gleichermaßen in jener Tradition, die Michel 
      de Montaigne einstmals begründete. Zum einen eine Mischung aus Rezension 
      und Reportage, dann den Essay über entlegene Dinge, und zu guter Letzt 
      nennt den Erinnerungsessay. Dem Essay schreibt man als 
      literarisch–philosophischer Form folgende Kennzeichen zu: 
      Unverwechselbarkeit, Persönlichkeit, eine bewegliche Freiheit des Geistes, 
      die Liebe zur offenen Form, der überraschende Blickwinkel, die Neigung zum 
      Vorläufigen, aber auch Pointierten, eine gewisse unternehmungslustige 
      Heiterkeit umreißen positiv das essayistische Temperament, wie es sich 
      skeptisch, auch kritisch zum Systematischen, Scholastischen, Dogmatischen 
      verhält. Philosophie als strenge Wissenschaft ist dem Essayisten ein 
      Gelächter, die Attitüde des Wahrheitsbesitzes, überhaupt alles Fixierte, 
      Gebundene ist verpönt; Zweifel ist ihm die primäre Tugend intellektueller 
      Redlichkeit, Langeweile die Sünde wider den Geist.  
       
      Pauls Essays sind kein langer Roman, auch keine wissenschaftliche 
      Abhandlung, im Idealfall aber verbindet er die Qualitäten der Gattungen. 
      In seinen Essays geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden 
      Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von 
      Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.  
      Was Pauls Essays die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische 
      Anstrengung, denen er das Material unterwirft. Wir haben nicht viel Übung 
      mit dieser Art des Schreibens, die Buchhändler
      wissen nicht, in welches Regal sie das Buch stellen sollen; und die 
      Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen 
      Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen 
      Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas 
      Exemplarisches meint. Es gilt die metaphorischen 
      Stecknadeln im Weltnetz zu finden.  
       
      Versuchsplattform für Pauls Schreiben ist der
      
      www.vordenker.de. Gegründet wurde dieses Forum von ihm in der 
      Mediensteinzeit 1996. Zuverlässig versammeln sich dort Dichter und Denker. 
      Paul erforscht Gebiete, die über den Rand der Buchstaben und Texte 
      hinausreichen. Sie dehnen sich in gewisser Weise indes sogar über die 
      Grenzen von Geist und Vernunft hinaus aus. In der Tradition Montaignes 
      versteht er den Essay als Versuch, gibt diesem aber den 
      naturwissenschaftlichen Sinn des Experiments, der experimentellen 
      Versuchsanordnung und zugleich die existenzielle Bedeutung des 
      Lebensexperiments und vertieft beides so ins Abgründige, daß aus dem 
      Versuch sowohl die Versuchung wie der Versucher und das Versucherische 
      sprechen. Welche labyrinthischen Gedankengänge bei diesem Auswahl– und 
      Transformationsprozess durchlaufen werden, wie schnell ein brauchbarer 
      Gedanke zu Abfall und Nebensächliches fruchttragend werden kann, 
      beschreibt Paul in seinen Essays.  
       
      Matthias Hagedorn, Werkstattgalerie Der Bogen, Februar 2012 
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