Die Bertelsmann-Stiftung, oder: Die Abwesenheit kybernetischen Denkens in der Politik

Ein Plädoyer für kybernetisches Denken in der Politik

tl;dr: Die Praxis des deutschen Stiftungsrechtes, insbesondere die Existenz der Bertelsmann-Stiftung und ähnlicher Strukturen belegt deutlich die vollständige Abwesenheit kybernetischen Denkens in der Politik.

~ 12 min Lesezeit

Kybernetisches Denken?

Sieht man von den altgriechischen Schiffslenkern einmal ab, dann ist „Kybernetik“ als Bezeichnung für eine auch technische Disziplin eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts. Die Bedeutung als politische Denkschule jedoch ist sehr viel älter.

Die Herkunft des Begriffs ist klar bestimmbar. Das altgriechische Wort kybernētiké bedeutet in etwa „Steuermannskunst“. Gemeint ist damit die Fähigkeit des Steuermanns, des kybernetes, sein Schiff durch die Unwägbarkeiten, die Veränderlichkeiten von Wind und Wellen hindurch zu seinem Ziel zu bringen. Allerdings schon Platon benutzte den Begriff in einem übertragenen Sinn für den Mann am Steuerruder einer Regierung, also als Kunst der Staatslenkung.[1]

Der Steuermann, aus dem altgriechischen kybernetes wurde der lateinische gubernātor, findet sich noch heute als politischer Begriff im Gouverneur wieder.

Der erste, der den Begriff „Kybernetik“ in der Neuzeit aufgriff, war der französische Physiker André-Marie Ampère (1775 – 1836), nach dem unsere Einheit der Stärke des elektrischen Stroms benannt ist.[2] In seinem Spätwerk entwickelte er ein Gesamtsystem von insgesamt 128 gegenwärtigen und zukünftig möglichen Wissenschaften. „La cybernetique“ als Kunst der Staatslenkung ist bei ihm eine der vier Abteilungen der politischen Wissenschaft, „quatre divisions pour la science politique“.[3] La cybernetique hat also auch hier ganz klar eine politische Bedeutung.

Nach dem Ende des 2ten Weltkriegs entwickelte die Kybernetik sich zu einer transdisziplinären Wissenschaft, in die sowohl geistes- als auch natur- und gesellschaftswissenschaftliche sowie ingenieurwissenschaftliche Fragestellungen einflossen. Einen zentralen Aspekt bildete hierbei die Homöostase mit der Frage, wie macht ein biologischer Organismus das, wie hält er beispielsweise seine Temperatur unter wechselnden Umweltbedingungen konstant auf 37°? (Bei uns Menschen) Also übertragen gesprochen, wie macht der Organismus das, bei wechselnen Winden und Wellen, hier thermisch Kurs zu halten? Oder allgemeiner, wie regelt ein Organismus – sich selbst – so, dass es der Selbsterhaltung dient, das es „gut“ für ihn ist?

(Der Begriff „Regeln“ jedoch kann hierbei schon mißverstanden werden. Wenn ein Mafiaboss zu seinem Killerkommando sagt „Regelt das!“ wird deutlich, dass diese Art des Regelns damit nicht gemeint ist.)

Jederfraumann, die/der auch nur etwas tiefer in die Kybernetik einsteigt, wird klar, dass wir es auf der Seite der Biologie mit der Regelung von Signal- und Informationsströmen einerseits und Energieströmen andererseits zu schaffen haben, und zwar so, dass das Beste für den Organismus und seinen Selbsterhalt herauskommt.

Kurz, es geht um Ströme und um Kreisläufe von Strömen, um Rückkopplungen, auch Feedback genannt.

Behalten wir das Bild der biologischen Regelungsvorgänge und übertragen es auf Politik und Gesellschaft – und es ist durchaus sinnvoll, das zu tun, diese Denkweise anzuwenden -, dann erhalten wir unmittelbar die Frage, wie regeln wir den Interessensausgleich unter uns, gesellschaftlich und politisch? Wie bekommen wir es hin, dass Politik zum Wohle aller gemacht wird? Ist das überhaupt möglich? Und wie bestimmen wir – demokratisch und gemeinsam – den Kurs der Politik?

Gewaltenteilung in Demokratien, demokratische Rückkopplungen

Seit John Locke und Anderen gilt in unseren westlichen Demokratien das als sehr sinnvoll erachtete Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne einer Balance, eines Ausgleichs der Kräfte, die Teilung in Gesetzgebung (Legislative), Regierung (Exekutive) und Rechtsprechung (Jurisdiktion), die jedoch – idealerweise – alle dem Wohl eines Staates, dem Gemeinwohl verpflichtet sein sollen.[4]

Dass das leidlich gut funktioniert, lässt sich paradoxerweise an Putschen und Putschversuchen erkennen. Dort ist das Ziel der Machtübernahme durch die Putschenden immer – neben einer Kontrolle der Informationsflüsse über die Leitmedien wie TV-Sender und Zeitungsredaktionen – zunächst die Kontrolle der Parlamente, der Legislativen und der Rechtsprechung, der Richter und Staatsanwälte. Erstes Machtmittel ist hierbei fast immer das Militär als Element der Exekutive. Erdogans Türkei ist hierfür – leider – ein treffendes Beispiel.

Der gesamtgesellschaftliche Interessensausgleich und die gemeinsame demokratische Willensbildung, die politische Kursbestimmung durch die Bürgerinnen und Bürger, die als wesentliche Ziele der Gewaltenteilung verstanden werden können, haben jedoch spätestens seit der Jahrtausendwende und nicht nur in Deutschland schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Ein Grund dafür ist das Abzweigen von zunächst für das Gemeinwohl bestimmten Kapitalströmen zur Verfolgung privatwirtschaftlicher Interessen. Gemeint sind hier Unternehmenssteuern (über deren richtige Höhe hier nicht debattiert werden soll).

Und mit Kapital, also Geld, kann man Energie kaufen, Kapitalströme sind in einem ganz gewissen Sinn Energieströme – um hier den Anschluss an die Biologie zu halten.

Kybernetik und Politik? Gemeinwohl? Kursbestimmung?

Das deutsche Stiftungsrecht sieht, mit dem globalen und im Grunde recht guten und verständlichen Ziel, auch privates gesellschaftliches Engagement zu fördern, u.a. das Konzept der sogenannten unternehmensverbundenen Stiftung vor.

Gründet ein Unternehmen eine Stiftung – mit dem erklärten Ziel der Gemeinnützigkeit, dann kann es einen Anteil der Unternehmensgewinne steuerlich vergünstigt geltend machen. Für die Bertelsmann-Stiftung ist dieses Verfahren recht extrem, sie hält gut ¾ der Anteile des Bertelsmann-Konzerns, der Bertelsmann SE & Co KGaA, die 2017 einen Gesamtumsatz von knapp 17 Mrd. € hatte.[5]

Zudem arbeitet die Bertelsmann-Stiftung operativ, das heißt Eleonore Müller, Adalbert Mayer und Michel Deutschmann können gern dort eigene Projektanträge einreichen für das, was sie gesellschaftlich als sinnvoll erachten, allerdings wird die Stiftung diese ablehnen, da sie grundsätzlich nur Projekte fördert, die sie selbst ins Leben gerufen hat.

Hoppla. Was heißt das?

Die Stiftung entscheidet mit dem steuerfrei vom Staat zur Verfügung gestellten Geld, was sie als gemeinnützig erachtet. Die Stiftung ist aber laut ihrer eigenen Satzung nur mittelbar dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, sondern zu allererst den erklärten Interessen ihres Stifters. Und die kann man nachlesen.

Die Bertelsmann-Stiftung engagiert sich laut Selbstaussage entsprechend den Intentionen ihres Stifters Reinhard Mohn für das Gemeinwohl. „Fundament“ ihrer „Arbeit“ sei „die Überzeugung, dass Wettbewerb und bürgerschaftliches Engagement eine wesentliche Basis für gesellschaftlichen Fortschritt bilden“, heißt es auf der Website der Stiftung.[6]

Nun denn, das muss aber nicht ihre oder meine Überzeugung sein, oder? Vielleicht haben wir ja ein anderes Verständnis von Gemeinwohl.

Aber lesen wir mal weiter, z.B. in der großen Anfrage der Piratenfraktion im Landtag von NRW vom 06.04.2016:

Die Bertelsmann Stiftung mag parteipolitisch neutral sein, gesellschaftspolitisch ist sie jedoch der Mission ihres Stifters verpflichtet. Diese Mission ist für jedermann nachlesbar:

Eine über den Wettbewerb hergestellte Effizienz als Steuerungsinstrument an Stelle demokratischer Gestaltung. Kurz: der Markt kann alles besser als der Staat. Zivilgesellschaftliches Engagement ist besser als steuerfinanzierte Daseinsvorsorge und demokratische Gestaltung wird implizit als ineffizient diskreditiert.

Der Sozialstaat gilt als überdehnt oder gar überholt. Liz Mohn: „Der anonyme Wohlfahrtsstaat hat ausgedient, an seine Stelle tritt der soziale Staat, der vom bürgerschaftlichen Engagement und vom solidarischen Verhalten aller lebt. Dass möglichst viele verantwortungsvoll ihr Können in den Dienst der Gemeinschaft stellen, das macht diesen Staat auf Dauer lebensfähig.“[7][8]

Werden wir konkret, was macht die Stiftung mit ihrem steuerfrei vom Staat zur Verfügung gestellten Geld?

Sie finanziert unter anderem Studien, operativ, d.h. zu Themen, die sie selbst als sinnvoll erachtet. Es vergeht fast keine Woche in den Medien, in der nicht eine von der Stiftung finanzierte Studie erscheint und fast immer ausgiebig zitiert wird.

Wer das nicht glaubt, kann ja gerne mal einen Alert, einen Email-Watchdog mit dem Stichwort „Bertelsmann“ bei Google schalten. Man bekommt dann die Suchergebnisse per Email zugesendet.

Ja und, was hat das für einen Effekt? Die Stiftung dominiert damit die Informationsströme zu den von ihr erachteten gesellschaftlich wichtigen Fragen, bildungspolitisch, sozial, etc.

Nun gibt es aber – insbesondere in Schulen und Hochschulen sowie unter Bürgerinnen und Bürgern – ein ganzes Heer von gebildeten Frauen und Männern, die zu vielen gesellschaftlichen Fragen ihre eigenen Impulse sehr gern einbringen würden, das aber nicht können, da die Debatte weitgehend vom Themensetzen, neudeutsch vom Agenda-Setting, der Stiftung bestimmt wird.

Sie dominiert zudem die Filterblase der Meinungspräger, der Alphajournalisten, da diese sich oft in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen befinden, die nicht selten zum Bertelsmann-Konzern gehören oder zumindest von diesem beeinflusst sind.

Die Strategien dazu sind übrigens offen nachlesbar unter http://www.reformkompass.de.

Über die mediale Macht des Konzerns kann die Stiftung also problemlos die Leitplanken für Debatten setzen.

Übrigens, das Suchstichwort „good governance“ – der Gouverneur als „gutes“ Verfahren, liefert hier weitere aufschlussreiche Erkenntnisse.

Sie selbst, also die Stiftung ist nicht oder selten Thema und wird daher auch nicht hinterfragt. Man zieht es vor, das Image „Wir sind die Guten“ zu pflegen und ansonsten möglichst im Hintergrund zu verbleiben.

Und über allem schwebt die Anerkennung als gemeinnützig und das Gemeinwohl als schickes warmes und nächstenliebendes Wollmäntelchen. „Liz Mohn“ und „Charity“, also Wohltätigkeitsveranstaltungen, liefern bei Google 12.400 Treffer. Wow!

Eine kybernetische Analyse der Ströme und Rückkopplungen liefert jedoch ein anderes Bild. Die Stiftung bestimmt mit Hilfe ihrer beträchtlichen finanziellen Mittel in der öffentlichen Wahrnehmung, also in den medialen Informationsströmen, was unter Gemeinwohl zu verstehen ist, selbst wenn Sie oder ich darunter etwas anderes verstehen. Die Stiftung setzt die Leitplanken für und bestimmt die Inhalte vieler gesellschaftlicher Debatten.

Aus gesamtgesellschaftlicher und demokratietheoretischer Sicht ist das weit mehr als fragwürdig, aus kybernetischer Sicht ist ein Teil der Gesellschaft, nämlich die nicht den Vorstellungen der Stiftung und ihres Gründers unterworfenen Meinungsteile ausgeklammert. Es fehlt somit ein Teil der für eine gute Demokratie so wichtigen kybernetischen Rückkopplungen!

Um‘s mal medizinisch zu sagen, das ist nicht gesund!

Also, mehr kybernetisches Denken in der Politik!

Weg mit der Bertelsmann-Stiftung!

Sie ist den Interessen des Stifters verpflichtet und seiner Vorstellung von Gemeinwohl. Das ist ganz sicher nicht meine Vorstellung. Und vielleicht auch nicht die Ihre.

Schönen Restfeiertag, Ihr

Nick H. aka Joachim Paul

Links und Quellen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kybernetik
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/André-Marie_Ampère
[3] Ampère, André-Marie ; Essai sur la philosophie des sciences ou exposition naturelle de toutes les connaissances humaines, Absatz ‘Sur le mot “cybernétique”’, Paris 1834
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltenteilung
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Bertelsmann
[6] http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/ueber-uns/
[7] https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD16-11660.pdf
[8] Financial Times Deutschland vom 5. 12. 2006, Gastkommentar

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