Anmerkungen zur Kolumne und zum Vortrag von Sascha Lobo „Mensch-Maschine“ vom 02.07.2014 in Spiegel-Online

Gastbeitrag von Eberhard von Goldammer [*]

Link zur hier besprochenen Kolumne von Sascha Lobo: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ueberwachung-und-kontrollwahn-dahinter-steckt-kybernetik-a-978704.html

Den Kontrollstaat, so wie wir ihn heute erleben, konnte man schon Ende der 80er Jahre voraussagen, nachdem – erst die US-amerikanische – und einige Zeit später die deutsche Forscher-‚Elite‘ die Neuroinformatik für sich wiederentdeckt hatte und meinte, damit nicht nur „neue“ wissenschaftliche Wege zu begehen, sondern auch noch menschenähnliche Maschinen – was die kognitiven Fähigkeiten anbelangt – konstruieren und bauen zu können. Auf der Basis dieser verkürzten Denkweise der (Neuro-)Informatiker konnte und musste es zu einem Kontrollstaat kommen. Das lässt sich auch detailliert begründen, würde aber an dieser Stelle den Rahmen sprengen. D.h. die Gesellschaft – also auch das Land NRW – hat mit der Förderung dieses Wissenschaftszweiges, der ja auch heute noch gefördert wird, das mitfinanziert, was Sascha Lobo in seinem Artikel/Vortrag und viele andere heute so heftig kritisieren. Vorhersagbar war es – Alternativen wurden damals abgewürgt. Ein Beispiel ist das unter [1] beschriebene und das ist leider nur ein Fall von mehreren.

Aus konzeptioneller Sicht war das, was da großartig gepriesen und dann großzügig mit Steuergeldern gefördert wurde, alles andere als neu, denn es war bereits in den 50er Jahren entwickelt worden – neu war nur die Hardware, die um Größenordnungen effizienter geworden war – im Sinne der elektronischen Datenverarbeitung und nicht der Kybernetik(!); – denn aus konzeptioneller Sicht hat sich seit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) – dem eigentlichen „Namenspatron“ (patron saint, wie Norbert Wiener in benannt hat) der Kybernetiker – nicht wirklich grundlegendes verändert.[2] Der heutige Computer lässt sich immer noch mechanisch abbilden: Zahn oder Lücke, Null oder Eins – das hatte schon Leibniz erkannt und technisch umgesetzt. Was bis heute aber noch nicht wirklich gelungen ist, ist die Umsetzung der Leibniz’schenVision einer „characteristica universalis“. Gerade die Europäer hätten allen Grund diese Vision von einem ihrer größten Vor-Denker in die Realität umzusetzen; – leider geschieht das nicht, obwohl die Voraussetzungen, wie das angegangen werden muss, seit etwa 40 Jahren bekannt und jedermann/frau zugänglich – d.h. gedruckt vorhanden – sind.

Vorausberechnungen oder Voraussagen zu machen, ist eigentlich der Wunsch und das Ziel aller Wissenschaftler und nicht eine spezifisch kybernetische Angelegenheit, wie das von Sascha Lobo beschrieben wird.
Überwachung von Teilen oder gar der gesamten Bevölkerung war immer, d.h. zu allen Zeiten die Aufgabe von Geheimdiensten/Geheimpolizei wie Gestapo, KGB, Verfassungsschutz und eben auch NSA, um nur einige zu benennen. Mit anderen Worten: Zu behaupten, dass „der Urgrund der Überwachung die Kybernetik sei“, wie es Sascha Lobo in seinem Beitrag tut – das ist schlichtweg Unsinn. Der arme Norbert Wiener: man kann ihn nicht für alles verantwortlich machen und erst recht nicht für die heutigen Zustände der USA und deren Geheimdienste.

Und schließlich: Karl Steinbuch hat Ende der 60er Jahre als der erste (Informatik)-Studiengang an der TU Karlsruhe im WS 69/70 eingerichtet wurde, nicht den Namen „Kybernetik“, sondern „Informatik“ gewählt – und das war gut so, denn die Künstliche Intelligenz-Forschung, wie wir sie heute kennen, ist meilenweit von dem entfernt, was die Begründer der Kybernetik[3] sich einst vorgestellt und erträumt hatten – um das zu erreichen, benötigt man einen grundlegenden wissenschaftlichen Paradigmenwechsel – also eine Erweiterung der Logik und Mathematik, wie sie durch die Polykontexturalitätstheorie des Philosophen und Logikers Gotthard Günther (1900-1984) in die Wissenschaft eingeführt wurde. Eigentlich ist Gotthard Günther der bedeutendste Kybernetiker des 20. Jhd. und durchaus in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit seinem großen Vorgänger Leibniz, in dessen Tradition sein Oeuvre – work in progress wie er es nannte – anzusehen und einzuordnen ist. Das gilt auch und ganz besonders vor dem Hintergrund, dass der Scientific Mainstream seine Arbeiten heute (.. noch ..) gar nicht wahrhaben will und sein Oeuvre schlichtweg ignoriert oder gar diskreditiert.

Endnoten:

[*] Zum Autor Eberhard von Goldammer, siehe: http://www.vordenker.de/vgo/vgo_publiste.pdf

[1]
(a) Eberhard von Goldammer & Rudolf Kaehr: ‚Lernen‘ in Maschinen und lebenden Systemen, in: Design & Elektronik, Ausgabe 6 vom 21. März 1989, S. 146-151— als pdf-Datei: http://www.vordenker.de/vgo/lernen-maschinen-leben.pdf
Das ist eine konzeptionelle Kritik an der damals so hochgejubelten Neuroinformatik, die nicht immer auf Gegenliebe gestoßen ist.
(b) Eberhard von Goldammer & Peter Rath: „Historischer Rückblick und Anmerkungen zu einem Projekt, das an einer Privat-Universität unerwünscht war … sowie Wissenschaftszensur oder Universität nach Gutsherrenart – Eine ‚Elite‘ in Deutschen Landen“, in: www.vordenker.de, 2007.
URL: http://www.vordenker.de/vgo/vgo_ein-ungeliebtes-forschungsprojekt.pdf
Das nur zur der oben gemachten Aussage “Alternativen wurden abgewürgt“ – auch das bezieht sich auf die 80er Jahre und es ist leider nicht das einzige Beispiel. In den 90ern war die Republik vereinigungsbesoffen und hatte dann auch keinerlei Interesse an solchen Themen.

[2] Eberhard von Goldammer: Leibniz … reloaded oder UniversalSCHRIFTsprache – Vision oder Illusion?, in: www.vordenker.de, 2011
URL: http://www.vordenker.de/vgo/anmerkungen_leibniz_a.pdf

[3] Es gab nicht nur einen “Vater” der Kybernetik. Man kann der Einfachheit halber vielleicht auf das Biological Computer Laboratory (BCL) verweisen, an dem eine ganze Reihe bekannter Wissenschaftler gearbeitet haben, die alle irgendwie für die Vaterschaft eines Gebietes stehen, das alles andere als militaristisch angedacht war. Den von Sascha Lobo und vielen anderen unterstellten Militarismus – wenn man diese Sicht einmal einnimmt – ist eine unmittelbare Folge der strikt monokontexturalen Logik und Mathematik, mit der das Gebiet in der Folgezeit bearbeitet wurde. Auf dieser Grundlage lässt sich Kybernetik im ursprünglichen Sinne nicht betreiben und entartet allenfalls zur elektronischen Datenverarbeitung – was ja tatsächlich geschehen ist. Lebende Systeme, um die es in der Kybernetik primär ging, sind nun einmal nicht monokontextural und damit monothematisch zu bearbeiten – das wussten schon die Urväter der Kybernetik – im Gegensatz zu ihren heutigen Kollegen aus der Informatik und/oder der Künstlichen Intelligenz (siehe: Macy-Konferenzen: http://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen).
URL zum BCL: http://de.wikipedia.org/wiki/Biological_Computer_Laboratory und http://bcl.ece.illinois.edu/
Geschichte des BCL: http://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.html

 

Ein Gedanke zu „Anmerkungen zur Kolumne und zum Vortrag von Sascha Lobo „Mensch-Maschine“ vom 02.07.2014 in Spiegel-Online

  • 11. Juli 2014 um 17:43 Uhr
    Permalink

    „Auf der Basis dieser verkürzten Denkweise der (Neuro-)Informatiker konnte und musste es zu einem Kontrollstaat kommen.“

    Das halte ich für sehr fragwürdig.
    Das klingt – ganz ähnlich wie bei Lobo – so, als ob die Technologie die armen super-Demokraten so von ihrer demokratischen Gesinnung abgebracht hat, daß sie nun garnicht mehr anders können, als Überwachungsstaat zu betreiben.
    Ach, diese armen Opfer, also wirklich.

    Umgekehrt ist es für mich stimiger: mit einer Überwachungsstaats-Mentalität fördert man hauptsächlich solche Forschungsprojekte und Ideologien, die einem der eigenen Machtausübung mehr Möglichkeiten geben.

    Auch Gotthard Günther hatte ja seine Finanziers beim Militär.
    Aber das Günthersche Zeug war wohl nicht wirklich von Interesse für die Geldgeber. Kybernetik hatte ihre Schuldigkeit getan, als die Kybernetik erster Ordnung weit genug voran getrieben war. Kybernetik als Kybernetik zweiter Ordnung – ih pfui. „Kommunistische Umtreibe“?

    Was will man mit Dialektik und selbstdenkenden Maschinen?
    Schon schlimm genug, wenn überhaupt mal – was seltengenug aber wohl für die Herrschenden immer noch viel zu oft vorkommt – Menschen selbständig denken und womöglich gar ihre Rechte einfordern.
    Warum sollte man sich dann noch selbstständig denkende Maschinen aufhalsen?

    Machtausübung geht am besten, wenn die gelenkten / unterdrückten Menschen wie „triviale Maschinen“ (Heinz von Foerster) agieren, und genau machen, was man vorgibt. Nicht umsonst geht viel Geld in Propaganda (auch wenn die als solche nicht im Staatshaushalt deklariert wird).

    Daß die geförderte Technologie den Militärs und Geheimdienstlern antidemokratische Gesinnung aufdrängte und ihre demokratische Einstellung hat erodieren lassen klingt mir jedenfalls nach billiger Auserede.

    „Wir konnten nichts dafür, die Technologie ist schuld!“

    Vielleicht ist das ja der Beginn eines Verteidigungs-Diskurses derjenigen, die da ihre Finger schmutzig gemacht haben, da vielleicht die Nach-NSA-Ära begonnen hat?
    Hmhhh, oder ist das ein bloßer Wunschtraum?

    Was man mit dem Geld, mit dem herum geschnüffelt wird, ansonsten alles so machen könnte…

    Wenn man’s genau nimmt, haben die Überwachungs-Superschnüffelnasen aber die Lehren aus den 80er-Jahren noch nicht verarbeitet, z.B. Chaostheorie.
    Man wird ohnehin niemals alles vorhersagen und kontrollieren können. Unerwartetes wird so oder so auftreten.
    Man kann aber mit VERMEINTLICHEN Vorhersagen, die eigentlich nur unzulässige Extrapolationen von Bekanntem sind, ganze Gesellschaften von der Demokratie in den Totalitarismus führen.

    Man bekommt also das, was man versucht (Kontrolle, absoulte), sowieso nicht, und das was man (egal, ob vermeintlich oder ernst gemeint) retten/beschützen will (Demokratie? freiheit? Sicherheit?) wird kaputt gemacht.

    Kürzlich fand ich auf youtube eine Sendung, die sich mit dem „brandheißen Thema Chaostheorie“ auseinandersetzt.

    „The Strange New Science of Chaos“
    https://www.youtube.com/watch?v=fUsePzlOmxw

    … die Sendung ist aus 1989, aber die Lehren daraus hat man noch immer
    nicht gezogen.

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