Die haben Kant nicht ordentlich gelesen ….

zusammengestellt von Joachim Paul

Kant. Portrait von Johann Gottlieb Becker (1720-1782)

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Das Wiegenfest des designierten Vaters der Aufklärung jährt sich am Montag den 22. April 2024 zum 300sten Mal, ein stolzes Alter für einen gerade jetzt in Zeiten der umsichgreifenden Antiaufklärung aktuellen Philosophen, mag manch philosophieaffiner Mitmensch denken.

Aus diesem Anlass gibt es hier einen kleinen Blumenstrauß aus weniger bekannten Zitaten und Textschnipseln, nicht von sondern über Kant.

Versammelt sind hier Paul Alsberg, Dirk Baecker, Claus Baldus, Stafford Beer, Markus Gabriel, Gotthard Günther, Oskar Negt, Kitaro Nishida, Rainer Paslack, Corine Pelluchon und Stephen Toulmin.

Der Titel dieser Mini-Sammlung, „Die haben Kant nicht ordentlich gelesen“, entstand

aus einem Satz eines Gotthard Günther-Zitates und kann hier auch als Platzhalter für die üblichen Streitereien innerhalb der kontinentalen Philosophie verstanden werden. So warf beispielsweise der Komparatist Werner Hamacher Hans Blumenberg vor, dass er Aristoteles’ Nikomachische Ethik nicht ordentlich gelesen habe.[1] Hermann Schmitz wiederum warf Günther vor, Hegel nicht ordentlich gelesen zu haben [2], etc., kurz, es scheint ein akademisches Naturgesetz zu sein, dass es immer einen Philosophen X gibt, der einem Philosophen Y vorwirft, einen Philosophen Z „nicht ordentlich gelesen“ zu haben.

Dabei ist allgemein bekannt, dass auch in Philosophiekreisen Werke anderer – nicht zugegeben – häufig nur „diagonal“ gelesen, „überflogen“ oder nach gerade zu eigenen Absichten passenden Textstellen durchsucht werden, etc., sodass die Formulierung „nicht ordentlich gelesen“ vordergründig betrachtet gerade noch als höflich interpretiert werden kann. Nicht selten wird aber hinter „nicht ordentlich gelesen“ eher ein „überhaupt nicht verstanden“ oder gar ein „in Grundzügen missverstanden“ versteckt.

Dem „Shooting Star“ der deutschen akademischen Philosophie, Markus Gabriel, möchte ich so etwas allerdings nicht unterstellen, obwohl er sich unlängst in einem Zeit-Interview zu der Bemerkung herabließ, Kant sei selbst kein aufgeklärter Mensch, sich aber gleichwohl der Notwendigkeit zur Aufklärung bewusst gewesen [3]. Aus dieser Aussage kann geschlossen werden, dass sich dahinter möglicherweise eine Art des Verständnisses verbirgt, die Aufklärung eher als Zustand und weniger als stetigen Prozess begreift.

Aber vielleicht ist das zu hoch gegriffen und Gabriels Bemerkung ist lediglich dem geschuldet, was das Feuilleton der Zeitschrift Jungle World schon 2013 den „Bengel-Faktor“ nannte.[4] Man mag hinzufügen, dass heutzutage im Zeitalter der im Dienste der kapitalistischen Ordnung stehenden Aufmerksamkeitsökonomie auch philosophische Einlassungen nicht selten zwischen kalkulierten Frechheiten und gleichermaßen geradezu provokant Offensichlichem changieren können.

Die diesem Beitrag seinen Titel gebende Formulierung taucht in einem Interview auf, dass Gotthard Günther kurz vor seinem Tod 1984 seinem ehemaligen Mitarbeiter und Promovenden Claus Baldus gab, „Phaidros und das Segelflugzeug: Von der Architektonik der Vernunft zur technischen Utopie“[5]:

Claus Baldus, CB: Sie sind von der indischen Philosophie zunächst zu Kant übergegangen, dann von Kant weiter zu Hegel. Warum sind Sie weiter zu Hegel gegangen? Viele andere moderne Denker sind ausdrücklich bei Kant stehen geblieben.

Gotthard Günther, GG: Die haben Kant nicht ordentlich gelesen. Wenn sie die Passage, die in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ von der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ und vom „transzendentalen Schein“ handelt, gelesen hätten, dann hätten sie gesehen, daß man ohne Dialektik nicht durchkommt. Was ist der Mechanismus, der den Schein produziert, der unser Denken immer wieder irritiert? und zwar in einer Art des Betrugs, der „unhintertreiblich“ ist, wie Kant wörtlich sagt. Der Schein entsteht, wenn ich über das Subjekt rede, denn ich kann nicht anders über das Subjekt reden, als daß ich es als Gegenstand nehme, daß heißt indem es Objekt für mich wird, und damit nicht mehr das ist, was es ist. Das Reden, Urteilen über ein Subjekt verkehrt es in sein Gegenteil. Selbst wenn ich diesen Schein für mich aufgedeckt habe, unterliege ich ihm weiter, kann nicht heraus aus ihm.

CB: Sie haben eben gesagt, Kant habe festgestellt, daß dem Subjekt, wenn es über sich selbst nachdenken will, nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst zum Objekt zu machen und sich damit scheinhaft zu verkleiden. Was war der Fortschritt, den Fichte, Hegel und Schelling gegenüber Kant in dieser Situation erreichten?

GG: Kant war der kritische Wegbereiter, der das Problem aufgewiesen hat, Fichte und Hegel haben eine systematische Theorie darauf aufgebaut. Sie haben die Dialektik der Ding- und Selbsterfahrungen des Bewußtseins, des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, Sein und Nichts, Wesen und Schein, Einheit und Vielheit usw. systematisch entwickelt. Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß ich Fichte im Grunde genommen erst nachträglich durch Gehlens „Theorie der Willensfreiheit“ entdeckt habe. Ich fing von vornherein mit Hegel an. Ich fand damals gleich, obwohl mich einige Sachen von Fichte wie die „Anweisung zum seligen Leben“ stark fesselten: wenn man – und das lag in mir irgendwie drin – exakt sein wollte, wenn man eine exakte Theorie der zwischen Subjekt und Objekt wirksamen Dialektik entwickeln wollte, dann mußte man versuchen, diese Exaktheit bei Hegel rauszukriegen. Hegel ist weiter gegangen als Fichte. Ich glaube, ich hab’s jetzt raus, das Bindeglied zwischen Sein und Nichts, aber das hat mich sechzig Jahre gekostet. Was Schelling betrifft, immer wieder, wenn ich ihn lese, ärgere ich mich über ihn: „Man sieht’s doch, nun sag’s doch mal deutlich, verdammt noch mal!“ Aber nichts zu machen. Nein, so kann man nicht denken. Er war der Romantiker unter den Idealisten, und wie bei allen Romantikern blieb sein Denken fragmentarisch. Sein Hauptwerk, die „Weltalter-Philosophie“, ist unvollendet geblieben, ist Fragment. Allerdings halte ich daran fest, daß es bei Schelling eine relevante Problematik gibt, sehr sogar. Das sind tastende Versuche gewesen auf der einen Seite von Fichte, auf der anderen von Schelling. Aber die sind genauso im Nebel herumgetappt wie ich, bei Hegel gibt es doch wenigstens Anhalte.

Kant ist also ein Wegbereiter, auf dessen Basis dann die Idealisten, wie Günther sagt „im Nebel“ weiter herumtappten.

Dass Kants Werk auch weit in die Naturwissenschaften hinein ausstrahlte, dürfte hinreichend bekannt sein, weniger aber, dass dies auch für neuere Begrifflichkeiten gelten mag, die erst ab Mitte des 20 Jh. in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerieten. Der Humanbiologe und Philosoph Rainer Paslack ist in seiner „Urgeschichte der Selbstorganisation“ diesem Begriff auf der Spur, für den er einen ersten neuzeitlichen Anker bei Kant sieht:

„Der Gebrauch des Ausdrucks „Selbstorganisation“ im modernen Sinne ist (mindestens) bis I. Kant (1724-1804) zurückzuverfolgen, der sich in der „Kritik der Urteilskraft“ von 1790 mit der internen Zweckmäßigkeit in der Natur, also ihren systemischen Eigenschaften auseinandersetzte. Das besondere Denkproblem bestand fur Kant darin, fur die Erklärung der Zweckmäßigkeit die Zwecke selbst nicht heranzuziehen, da diese nicht weniger »blind« wirken und bewirkt werden wie alle anderen kausalen Wechselwirkungen. Die begriffliche Lösung, die Kant anbot, steht in einer gewissen Nähe zu den heutigen Theorien der Autopoiesis (Maturana/Varela) und Selbstorganisation:

In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen – existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als Zweck überhaupt moglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen [Hervorhebung: R.P.], ein Naturzweck genannt werden können“.[K1]

Der Ausdruck »Selbstorganisation« wird hier auf das Vermögen der Natur angewandt, scheinbar zweckgerichtet Ordnung (wie etwa Planetensysteme [K2] oder Organismen) hervorzubringen. Kant vereinigt hier bestimmte Ideen Descartes‘ und Newtons in seiner Vorstellung, daß die Materie in sich ein Bestreben trägt „sich zu bilden“.“[6]

Der Kybernetiker Stafford Beer geht noch einen Schritt weiter, er bezieht sich in seinem Vorwort zu „Autopoiesis – The Organization of the Living“ (dt.: Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation) – von Humberto Maturana und Francisco Varela auf Kant und nutzt ihn gleich, um – ganz im Sinne der gerade in den 50er Jahren des 20. Jh. neu aufgekommenen Kybernetik gegen Kategorien- und Schubladendenken in den wissenschaftlichen Disziplinen zu argumentieren:

„Die Revolte der Rationalisten ‑ Descartes, Spinoza, Leibniz ‑ entsprang ei­nem Prinzip des „methodischen Zweifels“. Sie verlor sich jedoch in den Mecha­nismus, in Dualismus und immer weitere Kategorisierungen, und endete schließ­lich mit der Leugnung jeder Relation schlechthin. Relationen sind jedoch der Stoff, aus dem Systeme gemacht werden. Relationen sind auch das Wesen aller Synthese. Die Revolte der Empiristen ‑ Locke, Berkeley, Hume ‑ entsprang der Problematik des Verstehens der Umwelt. Analyse war jedoch immer noch die Methode und Kategorisierung immer noch das praktische Werkzeug des Fort­schritts. In dem bizarren Ergebnis dieser Geschichte ‑ die Empiristen kamen so weit, die tatsächliche Existenz der empirischen Welt zu leugnen ‑ überlebte die Relation, ‑ aber nur im Begriff der geistigen Verknüpfung geistiger Ereignisse. Das System „draußen“, das wir Natur nennen, war in dem Prozeß vernichtet worden.

Als sich schließlich Kant mit seinem überragenden Geist an die Aufklärung dieser Probleme machte, war die Schlacht bereits verloren. Wenn nämlich ‑ und ich zitiere ihn ‑ unbewußtes Verstehen die Sinneserfahrung in Schemata, bewuß­tes Verstehen sie dagegen in Kategorien organisiert, dann bleibt der Begriff der Identität für immer transzendental. [….]

Wenn dies aufgrund meiner Bemerkungen über Kant zu bedeuten scheint, daß es die Disziplinen auslöscht, dann sind wir bereits einen Schritt weiter. Da nämlich liegt mein Glaube an die allgemeine Bedeutung dieser (Maturanas und Varelas, Anm. JP) Arbeit. Die Auflösung der von mir beschriebenen verfahrenen Situation des Disziplinen­systems muß meta-systemisch erfolgen, nicht bloß interdisziplinär. Wir haben kein Interesse an der Bildung einer Liga disziplinärer Paranoiker, wir sind viel­mehr (wie Hegel uns gesagt hätte) an einer höheren Synthese der Disziplinen in­teressiert.“[7]

Kant also liefert Beer zufolge auch den Anlass für eine wissenschaftlich-methodische Revolution, eine neue Kultur des Denkens, so wie sie in der aufkommenden Kybernetik gefordert wurde.

Kant und seine Tischgenossen, von Emil Doerstling (1859-1940)

Führende Vertreter der neuen Denkkultur der Kybernetik vertreten die Auffassung, dass nicht ausschließlich der Mensch allein das eigentliche Subjekt der Geschichte sei, sondern das Universum selbst, weil es Leben und darauf basierend Reflexionsprozesse und Bewusstsein hervorbringen kann.

Diese Gedankengänge implizit stützend weist der britisch-amerikanische Philosoph Stephen Toulmin in seinem Grundlagenwerk „Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne“, in dem es ihm ausdrücklich nicht um ein Wissenschaftsverständnis geht, wie es die „modernen Positivisten verstehen, sondern um eine Kosmopolis, die ein umfassendes Weltbild liefert und die Dinge ebensowohl ›politisch‑theologisch‹ wie wissenschaftlich oder erklärend zueinander in Beziehung setzt“, auf diese Weiterung unseres Geschichtsbegriffs als eine Notwendigkeit hin. Er leistet dies durch einen Hinweis auf ein kritisches Argument Kants:

Kant begann seine Kritik des damaligen Weltbildes in der Allgemeinen Naturgeschichte… (1755) mit dem Argument, die Natur habe so gut wie die Menschheit eine Geschichte.“[8]

Der lange in Vergessenheit geratene und durch Dieter Claessens und Peter Sloterdijk wiederentdeckte jüdische Anthropologe und Arzt Paul Alsberg prägte in seinem Werk „Das Menschheitsrätsel“ den Begriff der Körperausschaltung als notwendigen zweiten Begriff neben dem der (Körper-)Anpassung. Mit dessen Hilfe konnte nun – im Unterschied zum körperlich ideal an die Umgebung angepassten Tier – an eine Weichenstellung innerhalb der menschlichen Evolution gedacht werden. Alsberg sieht bei Kant eine Vorahnung einer Einheit von Kultur und Natur, wenn er schreibt:

„Der große deutsche Philosoph Kant, der auch schon eine „Naturgeschichte“ der Himmelskörper schrieb; drang sogar zu der weittragenden Gedan­kenkonzeption vor, daß der Ausgang des Menschentums im Übergang „aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Frei­heit“ zu erblicken sei. Hier wird schon die Einheit von Kultur und Natur vorgeahnt.
Denn indem der Mensch sein „größtes“ Problem, das einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“, zur Lösung zu bringen versucht, handelt er im Sinn der Natur, führt er in Bewußtheit seine natürliche Entwicklung fort. Somit decken sich die idealen Ziele der Menschheit, als der philosophische Ausdruck eines tiefen „biologischen“ Bedürfnisses, mit den natürlichen Zielen der Menschheitsentwicklung.“[9]

Unter der Frage „Was ist Kultur?“ richtet der Soziologe Dirk Baecker den Fokus auf den inneren Gegensatz der den Menschen gleichermaßen glücklich und unglücklich machenden Kultur, ersteres im Unterschied zur Not der Tiere, zweiteres durch Unterwerfung der spielerischen Natur des Menschen unter künstliche Regeln, und verweist auf die Kantische Konsequenz aus eben jenem Gegensatz:

„Viertens: Kultur ist die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt. So der Philosoph Immanuel Kant, der diese Tauglichkeit als eine Kombination von Geschicklichkeit, Willen und Freiheit vom Despotismus der Begierden des näheren beschrieben hat.[K3] Kant zieht so bereits die Konsequenz aus der Gegensätzlichkeit der ersten beiden Bestimmungen und aus der Einsicht in das Historische der Kultur in der dritten Bestimmung. Der Kultur verdanken wir die Fähigkeit, etwas aus uns zu machen, zu unserem Glück und zu unserem Unglück, abhängig von der Zeit und den Umständen, in denen wir leben, und auf die Spur gebracht von der Einsicht in die historische Kontingenz unserer Umstände.“[10]

Eine Erneuerung der Aufklärung, oder wenn man so will eine Aufklärung 2.0, gehört zum Programm der französischen Philosophin Corine Pelluchon. Im Absatz „Vernunft und Wertschätzung“ des Kapitels 6 „Europa als Erbe und Verheißung“ ihres Werks „Das Zeitalter des Lebendigen – Eine neue Philosophie der Aufklärung“ warnt sie mit Kant eindringlich vor der Verachtung unserer Rationalität und vor Propheten:

„Der Intuitionismus stützt sich dagegen auf eine intellektuelle Intuition, die uns in unmittelbaren Kontakt mit der absoluten Wahrheit bringen soll. Heutzutage handelt es sich häufig um eine Reaktion auf das kalte Universum der Technowissenschaft, aber seine Verachtung für die Rationalität, sprich: sein Irrationalismus, rechtfertigt, dass man ihn in die Nähe des Illuminismus oder der Schwärmerei rückt, wie Kant es nennt und damit den Anspruch, das Übersinnliche zu verstehen, anprangert. Der Illuminismus ist gefährlich, weil er die Subjekte häufig dazu treibt, auf eine Persönlichkeit zu vertrauen, die sie für eine Art Propheten halten.“[11]

Oskar Negt, der im Februar diesen Jahres verstorbene Soziologe und Sozialphilosoph, macht das ganz große Fass des Immanuel Kant als Zeiten wendenden Denker auf, wenn er zur Würde des Menschen schreibt:

„Erst im Denken Kants wird Würde zu dem, was Grundlage aller übri­gen Persönlichkeitsrechte ist. Moralität und Legalität, diese zwei im Streit liegenden, aber untrennbaren Bewegungsrichtungen menschlicher Daseins­weise, beziehen ihre Geltungskraft aus einer gemeinsamen Ursprungs­quelle: der mit Selbstbestimmung verknüpften Freiheitsfähigkeit, die Auto­nomie zum prägenden Sinngehalt hat. Würde hat keinen Preis, sagt Kant. Sie ist Ziel und Inhalt jeden menschlichen Verhaltens, weil sie aufrechten Gang in der Haltung und aufrichtiges Denken im Geiste bezeichnet.“[12]

Da fehlt nichts. Aufrechter Gang, aufrichtiges Denken, Haltung. Würde hat keinen Preis. Auch nicht in einer kapitalistischen Ordnung. (Die haben Kant nicht ordentlich gelesen.)

Es begann im Metaphysischen mit der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Den Abschluss dieser höchst unvollständigen Sammlung über Kant macht Kitarō Nishida, der Vater der Kyoto-Schule und Begründer der modernen japanischen Philosophie. Mit ihm und seiner Frage nach dem Ort des Bewusstseinsaktes kehren wir zurück in metaphysische Denkzusammenhänge.

„Das Bewußtsein, das bei Kant durch die Sinnlichkeit den Inhalt des Wissens in sich aufnimmt, muß der Ort des gegensätzlichen Nichts sein, der ein bloß reflektierender Spiegel ist, so daß sich in diesem Ort die Welt der Sinnlichkeit zeigt. Das Bewußtsein überhaupt ist aber nicht ein Bewußtsein in diesem Sinne, sondern muß der Ort sein, in dem sich auch der Bewußtseinsakt befindet. Es ist ein Nichts, das auch das gegensätzli­che Nichts umfaßt und somit ein Spiegel, der nicht ein von außen [Gegebenes ab]spiegelt, son­dern ein Innen [aus]spiegelt. Alles in diesem Ort Befindliche wird damit zu etwas Geltendem. Im Ort des wahren Nichts muß das Geltende zugleich auch das Existierende sein.“[13]

Und der, an dessen Gedanken sich diese Gedanken entzündeten, ist heute 300 Jahre alt.

Joachim Paul, Neuss, am 22. April 2024

Gemälde:
Kant. Portrait von Johann Gottlieb Becker (1720-1782) – http://www.philosovieth.de/kant-bilder/bilddaten.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32860677

Kant und seine Tischgenossen, von Emil Doerstling (1859-1940) – Emil Doerstling, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=554117

Quellen (Print und Links):

[1] Werner Hamacher, Technik, Löffelheit, gedachter Verstand
– Vortrag Bochumer Kolloquium Medienwissenschaften 25.05.2011
https://www.ruhr-uni-bochum.de/bkm/archivseiten/23_hamacher.html ab Timecode 26:23

[2] Hermann Schmitz, Rezension Gotthard Günther: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik Erster Band: Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Hamburg 1959. Felix Meiner, 417 S., Phil. Rundschau 9 (1961) 283-304, https://www.vordenker.de/ggphilosophy/schmitz_rezens-idee-grundr.pdf

[3] Markus Gabriel, Interview in DIE ZEIT online, „Kant war kein aufgeklärter Mensch“, 04.02.2024, https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2024/01/markus-gabriel-philosophie-immanuel-kant/komplettansicht

[4] https://jungle.world/artikel/2013/35/der-bengel-faktor

[5] Claus Baldus, Phaidros und das Segelflugzeug:
Von der Architektonik der Vernunft zur technischen Utopie – Aus Gesprächen mit Gotthard Günther, aus: DAS ABENTEUER DER IDEEN, Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution, Internationale Bauaustellung 1987, S. 69-83, online: https://www.vordenker.de/ggphilosophy/phaidros.pdf

[6] Rainer Paslack, Urgeschichte der Selbstorganisation: zur Archäologie
eines wissenschaftlichen Paradigmas, Braunschweig, Wiesbaden, 1991, S. 20-21

Kant-Quellen bei Paslack:
[K1] I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 65, B 291 f.
[K2] So versuchte Kant in seiner 1755 erschienenen Schrift »Allgemeine Natur-geschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebaudes nach Newtonischen Grundsatzen abgehandelt« die Entstehung des Planetensystems durch einen Vorgang der Akkretion aus einem rotierenden chaotischen Urnebel abzuleiten (»Nebularhypothese«): Stöße zwischen den sich ungeordnet bewegenden Gas- und Staubteilchen im Verein mit der zwischen ihnen wirkenden Gravitationskraft fiihren zu lokalen Zusammenballungen unterschiedlicher Massengröß, woraus ein dynamisch ausbalanciertes Vielkörpersystem (eben das Planeten- oder Sonnensystem) mit der Sonne als Zentralkörper hervorgeht. Dieser Vorgang der Selbstordnung zahlloser Materiepartikel zu einem wohlgeordneten Gefiige weniger wechselwirkender Massen dient Kant als Paradigma für die unaufhorliche materielle Selbstorganisation des Universums nach mechanischen Prinzipien am Rande eines unendlichen Chaos.|→ff.

[7] Stafford Beer, Vorwort zu Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation, in Humberto Maturana, Francisco Varela, „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“, Wiesbaden 1985, S. 171-173

[8] Stephen Toulmin
Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt a.M. 1991, S. 152ff

[9] Paul Alsberg, Der Ausbruch aus dem Gefängnis – zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, Bearbeitete Neuauflage (1979) von ‚“Das Menschheitsrätsel“, Orig. Sybillen-Verlag, Dresden 1922, kommentiert von Hartmut und Ingrid Rötting, Hrsg.: Dieter Claessens, S. 191-192,
online: https://www.vordenker.de/alsberg/p-alsberg_menschheitsraetsel.pdf

[10] Dirk Baecker, Was ist Kultur? Zeppelin-Universität Frierichshafen 2010, https://www.yumpu.com/de/document/view/7392265/was-ist-kultur-dirk-baecker

Kant-Quelle bei Baecker:
[K3] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Werke V, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 1968.

[11] Corine Pelluchon, Das Zeitalter des Lebendigen, Eine neue Philosophie der Aufklärung, Darmstadt 2021, S. 265

[12] Oskar Negt, Nur noch Utopien sind realistisch – Politische Interventionen, Göttingen 2012, S. 35

[13] Kitarō Nishida, Logik des Ortes, übersetzt und herausgegeben von Rolf Elberfeld, Darmstadt 1999, S. 91ff

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