Liebe Vordenkerinnen, liebe Vordenker,
Nach über einem Jahr gibt es nun einen neuen Newsletter. Gleichwohl wurden zwischendurch einzelne Texte publiziert, die hier zum Schluss noch einmal aufgelistet sind.
Jetzt zum Jahreswechsel gibt es neue Beiträge von Claus Baldus, Gotthard Günther, Manfred Moldaschl und Melanie Xu. Darüber hinaus wird auf das aktuell erschienene Science Fiction Jahrbuch 2025 verwiesen, zu dem ich einen kleinen Beitrag leisten konnte.
„pop psyche politik – begehren will bühne – blick trifft welt“ titelt Claus Baldus ein zehnteiliges Werk, bestehend aus vier Übungsstücken für Anfänger und Neuanfänger im Alltag, vier BerlinBalladen in Bildern sowie einer Vorbemerkung und einem Register, zu erreichen über die Vorbemerkung. Jeder der zehn Teile enthält auf seiner zweiten Seite hinter dem Deckblatt einen Navigator, über den die jeweils anderen Teile aufgerufen werden können.
Jede Zeit hat ihre Kontur, ihre Formen und Figuren und ihre Neurose.
– so leitet Claus Baldus in der Vorbemerkung ein –
Was das betrifft, können wir in den letzten Jahren von Obsessionen sprechen, Zwangsvorstellungen, die Lebensprogramm, Handeln und Bewusstsein in schicksalhafte Triebstruktur binden, praktische Ziele und Sinnsuche dirigieren und Willensbildung wie Denkformen gegen alternative Wahrnehmung und kritische Argumente immunisieren. Das ist die Spur, die Politik in den letzten Jahren hinterlassen hat : “Erbschaft dieser Zeit“, wie Bloch damals titelte, 1935. Aber es ist zu allen Zeiten so, ihre Signatur bleibt, ein Stenogramm.
Die Stücke sind Einladungen, nicht bloß zur Rezeption, sondern auch zur freien aktiven Umgestaltung, zur Anpassung an anders gegebene Situationen und Möglichkeiten. Insofern sind die in den Stücken auftretenden Personen, Robots und Menschen, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als abstrakte, Formen und Muster repräsentierende Typen.
Die Gesamtkomposition ist ergänzt und/oder durchbrochen von BerlinBalladen in Bildern, die unterwegs Sein fotografisch repräsentieren. Der Neorealismo Italiano, der Italienische Neorealismus in Literatur, Film, Fotografie und Architektur sei eine seiner Bezugslinien, hebt Baldus hervor.
Bildschirmfüllend betrachtet springen seine Fotos den Betrachter geradezu an. Und dabei springt der nicht sichtbare Rahmen mit. So schreit jedes Foto den ungesagten Subtext: „Das ist nur ein Ausschnitt, eine subjektive Wahl, eine individuelle Geschichte!“ Das ist erholsam und entspannend gegenüber der Angestrengtheit vieler Fotos und Videos im Datennetz, deren Sender, suggestiv vorzugeben versuchen, eine objektive Wirklichkeit abzubilden. Für weitere Anregungen zur Eigeninterpretation durch die Rezipienten sei auf Claus Baldus‘ Vorbemerkung verwiesen.
Die Bibliographie Gotthard Günthers wird nun ergänzt um eine neue, im Format überarbeitete Version seines Essays Das Phänomen der Orthogonalität. Hinzu kommt nun ein längeres Fragment aus seinem Nachlass, Die Metamorphose der Zahl.
Das Phänomen der Orthogonalität ist ganz der Würdigung Max Benses gewidmet und erschien erstmalig und posthum 1985 in der Zeitschrift Semiosis. Seine Bereitstellung im eJournal vordenker.de war ursprünglich für das Jahr 2001 geplant und vorbereitet, geriet aber in Vergessenheit. Eine Revision der Bibliographie Günthers und der dafür vorgesehenen Texte brachte dies zum Vorschein. Eine Publikation auf vordenker.de erfolgte dann im Juni 2022.
Das Phänomen der Orthogonalität wird nun hier aus gutem Grund zusammen mit dem Fragment Die Metamorphose der Zahl in einer neu formatierten Version zu Studienzwecken bereitgestellt. Denn beide Texte hängen inhaltlich zusammen. Sie gehören nicht nur zu den letzten Arbeiten Gotthard Günthers sondern markieren auch so etwas wie einen nicht abgeschlossenen Abschluss seiner Überlegungen zur dialektischen Zahlentheorie. Die Metamorphose der Zahl konnte Günther nicht mehr beenden. Beide Texte sind Bestandteil seines Nachlasses im Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin. Die hier bereitgestellten und sorgfältig neu formatierten Versionen basieren auf Kopien aus dem Handapparat von Rudolf Kaehr.
Spätestens seit Günthers Begegnung mit dem Physiologen, Psychologen und Mitbegründer der Kybernetik, Warren Sturgis McCulloch, im Jahr 1959, die Günthers Forschungsprofessur an Heinz von Foersters Biological Computer Lab in Urbana, Illinois, zur Folge hatte, nahm ein weiterer wesentlicher Teil seiner Lebensarbeit seinen Anfang. Günther legt davon in seinen Erinnerungen an W. S. McCulloch, Number and Logos/ Zahl und Begriff ein eindringliches Zeugnis ab. Später beschrieb Günther das Ziel dieses Arbeitsfeldes recht prägnant als Bestimmung des philosophischen Ortes der Zahl. Es führte ihn zur Entwicklung der Kenogrammatik und der dialektischen Zahlentheorie. Die beiden Texte sprechen für sich. Darauf aufbauende, beschreibende und erklärende Sekundärtexte werden weiterhin hier publiziert.
Manfred Moldaschl, zuletzt lehrte er Sozioökonomie und unternehmerisches Handeln an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen, beehrt dieses eJournal mit einer kleinen Satire zum Thema Künstliche Intelligenz. Seinen Beitrag Die Schimpfmaschine und das Wesen des 21. Jahrhunderts leitet er ein mit einer gröblichen Epocheneinteilung:
Das 18. Jahrhundert war das Centennium der Mechanisierung. Das 19. Jahrhundert war das der Energetisierung. Das 20. Jahrhundert war das der Automatisierung. Das 21. Jahrhundert ist das Centennium der Autonomisierung.
Mehr sei hier nicht verraten, nur soviel, es gibt viel zu wenig Satiren zum Thema „Künstliche Intelligenz“! Allein das kann schon als ein Symptom gelten. Des Autors Beitrag darf als textuelles Psycho-, oder besser, Mentopharmakon wider die umsichgreifende mentale Verstopfung interpretiert werden.
Melanie Xu, deren Masterarbeit u.a. hier im November 2024 bereitgestellt wurde, folgte einer Aufforderung, ein Paper für das 50th Anniversary Meeting of Social Science History Association (SSHA) einzureichen. Sie wurde daraufhin eingeladen, auf der SSHA-Konferenz „Complexity and its Consequences“ (November 20-23, Chicago, Ill., USA, Palmer House Hilton) zu ihrer Arbeit ein lecture in der Section “For You”: Ethics, Literacy, and Responsibility in AI and Newer Social Media zu halten. Ihr Vortragstext steht hier komplett zur Verfügung und trägt den Titel The Ethics of Generative AI – an Update 2025. Er kann als direkte Ergänzung und als Update ihrer Master-Thesis Raubbau an der Kultur? – Zur Ethik generativer KI im aktuellen Diskurs gelesen werden.
Ein close reading ihres in Englisch verfassten Beitrags ist dringend empfohlen. Ohne dem Lesen vorgreifen zu wollen, sei hier noch angemerkt, dass sie in ihren abschließenden Bemerkungen direkt auf den Titel der Konferenz, Complexity, Bezug nimmt und auf grundsätzliche Unterschiede zwischen biologischen und technischen Systemen hinweist.
Darüber hinaus berichtet sie von dem Meeting mit insgesamt 224 Sections, dass viele Beiträge sich auch um große Sorgen in Bezug auf den Social-Media-Konsum jüngerer Generationen drehten. Diese Thematik, so Xu, wird wohl auch in den USA weitreichend reflektiert.
Unlängst erschien DAS SCIENCE FICTION JAHR 2025 im Hirnkost-Verlag.
Auszug aus dem Verlagstext:
Utopisch ist der Gedanke, dass ein Jahrbuch über vierzig Jahre in ungebrochener Folge erscheint und zurückblickt auf ein Genre, das sich multimedial durchgesetzt hat: die Science Fiction! 1986 wurde der Almanach von Wolfgang Jeschke ins Leben gerufen, später von Sascha Mamczak und Sebastian Pirling herausgegeben, bis Hannes Riffel das Projekt 2015 in den Golkonda Verlag holte und von Michael Görden fortgeführt wurde. Seit der 2019er-Ausgabe hat das Jahrbuch sein Zuhause im Hirnkost Verlag.
Und »Utopien und Science Fiction« ist eines der Schwerpunktthemen der 40. Ausgabe des Jahrbuchs, hoffend, dass die Beschäftigung mit Hopepunk als Hoffnungsaktivismus, mit der Wirkmächtigkeit sozialer Utopien und mit der konkreten Umsetzung utopischer Lebensweisen à la Le Guins Für immer nach Hause etwas in unserem Denken und Handeln für die Zukunft bewegen kann. Ein ganz anderes Spektrum der SF wird im zweiten Schwerpunkt »Kosmische Visionen« beleuchtet, in dem es um Darstellungen im 21. Jahrhundert ebenso gehen soll wie um das Zusammenspiel mit der Hard Science Fiction und den Beginn des planetaren Denkens.
Wie in jedem SF-Jahr dürfen die Rückblicke auf die Entwicklungen der Science Fiction in Buch, Film, Game, Comic und Podcast nicht fehlen. Auch ein Überblick über die wichtigsten Genre-Preise sowie ein Nekrolog sind Teil der Ausgabe.
U. a. mit Beiträgen von Judith C. Vogt, Lena Richter, Jol Rosenberg, Bernd Flessner, Karlheinz Steinmüller, Marie Meier, Isabella Hermann, Michael Wehren, Theresa Hannig, Matthias Fersterer, Alessandra Reß, Judith Madera, Wolfgang Neuhaus, Wolfgang Both, Udo Klotz, Marie Meier, Markus Tillmann, Dominik Irtenkauf u. v. m.
Seit 2019 geben Hardy Kettlitz und Melanie Wylutzki das Jahrbuch gemeinsam heraus und werden redaktionell von Wolfgang Neuhaus und Michael Wehren unterstützt.
Planetares Denken! Seufz. Ich gestatte mir dazu eine kleine Bemerkung. Es ist m.E. außerordentlich mutig und vor allem wichtig, dass mit dieser Ausgabe, die auch noch eine Jubiläumsausgabe ist, einen kräftiger Kontrapunkt gegen die dystopischen Zeitgeister gesetzt wird. Und ich freue mich, dazu einen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Er schließt das Feature Utopie und SF ab. Du hast immer eine Wahl … John Brunners Der Schockwellenreiter neu gelesen beginnt auf Seite 191.
Rückschauend auf das Jahr 2025 verweise ich auf zwei längere Beiträge von mir zum Themenbereich Künstliche Intelligenz, die erfreulich oft und kompetent rezipiert wurden:
März 2025: Irreduzible Parallelität – eine Begriffsgeschichte, Sprachliche Ermittlungen im Reich des Komplexen
September 2025: Kreativität und Maschine – ein Diskursbeitrag zu künstlicher Intelligenz
und unseren Mensch-Maschine-Verhältnissen
Abschließend erlaube ich mir noch den Hinweis, dass die Deutsche Nationalbibliothek 3mal im Jahr den Content dieser Website scannt und archiviert.
Geruhsame Feiertage und ein gleichermaßen erfolgreiches wie wenig skandalöses Jahr 2026 wünscht,
Ihr Nick H. aka Joachim Paul (Hg.)

