Hallo zusammen,
Freunde wiesen mich darauf hin, dass die folgende kleine sowie wahre Geschichte es wert sei, erzählt zu werden. Sie handelt von Anstand und Höflichkeit und hat mit Hegel und China zu tun.
Mitwirkende: Reinhold Baer (Mathematiker), Eberhard von Goldammer (Biophysiker), Gotthard Günther (Philosoph), Prof. TS, sein Coordinator YW, Frau UR, Heidi und meine Wenigkeit.
Zu Beginn muss ich etwas ausholen. Sorry.
Dass mein u.a. von mir mitbegründetes eJournal www.vordenker.de sich neben vielem anderen mit den Arbeiten des Philosophen und Logikers Gotthard Günther (1900 – 1984) beschäftigt, dürfte Insidern ja bekannt sein. Beim gemeinsamen Studium der Texte Günthers fiel mir und Eberhard von Goldammer (1941 -2024) – ich hatte irgendwann im letzten Jahrtausend bei ihm diplomiert und promoviert – auf, dass der Philosoph an mehreren Schüsselstellen in seinem Werk einen bestimmten Text des deutschen Mathematikers Reinhold Baer (1902 – 1979) zitierte.
Baer, in mathematischen Fachkreisen recht prominent,
war jüdischen Bekenntnisses und ging 1933 nach der Machtergreifung durch die Nazis auf Einladung von Hermann Weyl (1885 – 1955) für zwei Jahre nach Princeton, um anschließend eine Professur an der University of Illinois in Urbana anzunehmen. 1956 kehrte er nach Deutschland zurück.
Auf dem Hegel-Kongress im Oktober 1931 in Berlin hielt Reinhold Baer einen Vortrag mit dem Titel „Hegel und die Mathematik„, der später im Tagungsband veröffentlicht wurde. Gotthard Günther hat häufiger Tagungen zu Hegel besucht und dort auch selbst Vorträge gehalten. Insofern ist es möglich, dass er bei Baers Vortrag anwesend war, Genaues weiß ich allerdings nicht.
Mitte 2001 schlug Eberhard dann vor, den Vortrag Baers als Quellenmaterial zum Werk Günthers auf vordenker.de nichtkommerziell zu Bildungs- und Seminarzwecken zu veröffentlichen. Er organisierte eine Kopie in der Bibliothek der Ruhruniversität Bochum. In der Winteredition 2001 stellten wir den Text online.
Am 22. Juli 2025 erhielt ich eine Email aus China mit dem Betreff „Inquiry concerning the Copyright of „Hegel und die Mathematik““ und folgendem Text, die Namen in der Mail sind durch Platzhalter ersetzt:
Dear WebMaster,
I am writing this email on behalf of Prof. TS from XYZ University, China, to inquire whether you are able and willing to authorize him to publish his translation of the paper „Hegel und die Mathematik“ written by Reinhold Baer.Prof. TS’s translation aims to make your valuable research accessible to Chinese academic communities and students. The translated work will be used strictly for non-commercial, educational purposes, with full attribution to you as the original author and clear citation of the source.
We kindly ask you to confirm:
Your approval for the translation and publication of the Chinese version;
Any specific conditions or formatting requirements you may have.Thank you for considering this request. We deeply appreciate your contribution to academia and look forward to your response.
Sincerely yours, YW
Coordinator
Ich war überrascht und erstaunt. Der chinesische Professor hatte den Vortrag Baers wohl schon in Mandarin übersetzt. Um dem freundlichen Email-Schreiber gegenüber nicht ganz mit leeren Händen dazustehen und ihm bloß mittzuteilen, dass ich nicht das Recht hätte, das Anliegen von Herrn Prof. TS zu autorisieren, machte ich mich selbst an die Recherche.
Nach einem Umweg über Heidi, die Bibliothek der Universität Heidelberg – die heißt wirklich so! – wo mir ein – keine Ironie! – ausgesucht hilfsbereiter Bibliothekar telefonisch erklärte, dass man nur den privaten Nachlass von Reinhold Baer betreue und über Publikationsrechte leider nichts sagen könne, kam ich auf die Idee – echt, erst jetzt – den Verlag der Kongressveröffentlichungen zu kontaktieren, in Erwartung, dass man mir dort die Ohren langzieht, weil ich den Vortrag Baers einfach so online gestellt hatte.
Dem war aber gar nicht so. Der Mohr-Siebeck Verlag in Tübingen hält eine eBook-Ausgabe des 1931-Kongressbandes „Verhandlungen des zweiten Hegelkongresses vom 18.-21. Okt. 1931 in Berlin, (B.Wigersma, Hrsg.) J.C.B. Mohr, Tübingen, 1932“ nach wie vor zum Erwerb bereit für einen Preis von weit über 100 Euronen.
Beim Verlag verband man mich schnell mit der Expertin für Publikationsrechte, Frau LR. Sie bat mich um etwas Zeit und die Weiterleitung der Originalmail von Herrn YW. Wir verabredeten, dass ich eine kleine Info über die Weiterleitung an den Verlag an Herrn YW schreibe und sie sich bei mir meldet, sobald sie weitere Informationen hätte.
Mein Schreiben an Herrn YW (Auszug),
Dear Mr YW,
First of all, thank you very much for your interest and your enquiry. I
must now explain something, as I am not authorised to grant permission
for Baer’s work.[… blabla zu Günther und Baer, my explanation …]
Baer’s lecture is part of the volume published by B. Wigersma in
Mohr-Siebeck-Verlag entitled ‘Proceedings of the Second Hegel Congress
from 18 to 21 October 1931 in Berlin II’, which is still available in
print. I have therefore forwarded your enquiry to the publishing
company, namely Ms LR. She will be able to provide you
with further information.
With best regards to you and Prof. TS,
Joachim Paul
Drei Tage später meldete sich Frau LR vom Verlag per Mail bei mir:
Sehr geehrter Herr Paul,
Vielen Dank für Ihren Anruf letzte Woche und für Ihre Nachricht.
Ich habe ausgiebig recherchiert und gar keine weitere Information gefunden, wo Baers Rechte liegen könnten bzw. wer sie jetzt verwaltet. Die Rechte an Beiträgen in Sammelwerken fallen nach zwei Jahren an den Autoren zurück. Ich fand die Publikation zwar bei der DNB und auf Google Books, aber das Buch steht nicht (mehr) bei uns auf der Backlist.
[…]Ich würde in diesem Sinne eine kleine Mail an Herrn YW schreiben. (Seine Anfrage war ausgesprochen höflich, und so wie ich finde, könnten die Amis da was abgucken …).
Mit herzlichen Grüßen, LR
Am selben Tag bedankte sich Mr YW überschwänglich bei mir. Ich dankte noch einmal Frau LR für ihren Service und erhielt einen Tag später noch eine Mail von ihr:
Sehr geehrter Herr Paul,
Vielen Dank für Ihre freundliche Rückmeldung; das freut mich, dass meine Mail hilfreich war. Ja, irgendwie waren die Amis am Ende der Schlange als Gott Anstand und Geduld ausgeteilt hat …!
Herzliche Grüße, LR
And that’s the end of the story …
Bleibt noch anzufügen, dass ich vor einigen Jahren diverse von mir online gestellte Texte, darunter waren auch eigene, in einer Datenbank von Allen AI gehosted wiederfand, eine KI-Firma mit Sitz in Seattle, gegründet vom Kleinweich-Mitgründer und Gates-Buddy Paul Allen. Ich fragte per Mail bei Allen AI, was das soll. Eine Antwort steht bis heute aus ….
Abschließend möchte ich betonen, dass es hier im Kern weder um Antiamerikanismen noch um Prosinoismen gehen soll – in dieser Geschichte geht es um Urheber und um Menschen, die elektronisch miteinander kommunizieren – und Brücken bauen – über Grenzen hinweg.
Happy 2026!
Joachim Paul
