Kleine Denkhilfe für Politiker – heute: Realitätsverlust

Das Wort „Realitätsverlust“ – nebenbei bemerkt mein persönlicher Favorit für das Unwort des Jahres 2011 – ist ja aktuell wieder in aller Munde, ausgelöst durch Mubaraks Rede gestern abend und die Splitscreen-Technik des Fernsehens. Links der Präsident, der nicht loslassen will, und rechts die ihre Schuhe hochhaltenden wütenden Ägypter auf dem Midan at-Tahrir. Ein Präsident, der am Volk vorbeiredet, sich als fürsorglicher Landesvater seiner Ägypter darstellt und dabei wahrscheinlich einen gut Teil der ägyptischen Staatsschulden aus seinem Privatvermögen bezahlen kann. Mubarak hätte auch und schön auf Deutsch sagen können: „Auf jedem Schiff, das dampft oder segelt, gibt es Einen, der die Sache regelt, und das bin ich.“ Zu einer anderen Zeit hätte man gesagt „l‘ etat c’est moi“, alles derselbe Brei.
Ein Verlust der Realität aber setzt voraus, dass man sie vorher „gehabt“ hat. Dies ist jedoch aus ganz prinzipiellen Gründen nicht möglich. Denn die „Realität“ als solche ist gar nicht erfahrbar. Dazu müssten wir alle überhaupt möglichen Standpunkte gegenüber allen möglichen Sachverhalten, gegenüber der ganzen Welt und unseren Mitmenschen einnehmen können, und das auch noch gleichzeitig.
Den Traum vom Realitätsbesitz, in den ökonomischen „Wissenschaften“ „full rationality“ genannt – gemeint ist hier die volle Kenntnis eines Marktes – hatten Ökonomen und mit Wirtschaft befasste Leute schon lange aufgegeben. Zurück blieb die Handlungsmaxime „Heil Dir dem Siegerkranz, nimm, was Du kriegen kannst“, die nicht unerheblich zum Entstehen der jüngsten Finanzkrise beitrug.
Politiker und Führungskräfte, die anderen Politikern und Führungskräften „Realitätsverlust“ vorwerfen, leiden also gewissermaßen selbst unter einem solchen, nämlich genau dann, wenn sie diesen Begriff verwenden.
Unser alter Hegel, dem man nun wirklich nicht unterstellen kann, sich überall und immer allgemeinverständlich ausgedrückt zu haben, hat mal einen sehr schönen Satz von sich gegeben: „Unter Bildung versteht man das Vermögen, die Dinge vom Standpunkt eines anderen aus betrachten zu können.“
Es geht also um die Fähigkeit, sich in andere hinein versetzen zu können, um deren Lage zu verstehen. Gut, wie steht es dann z.B. um diese Fähigkeit bei unseren Politikern, die gerade die Verhandlungen über die Festlegung der Hartz IV-Sätze abgebrochen haben?
Wir haben also ein Bildungsproblem. Bei Politikern.

Nur mal so,
Nick H.

p.s: ach übrigens, ich bin Pirat.

Ein Gedanke zu „Kleine Denkhilfe für Politiker – heute: Realitätsverlust

  • 13. Februar 2011 um 15:18 Uhr
    Permalink

    es ist die frage, in welchen sinne der begriff „realität“ benutzt wird.
    normalerweise gebrauchen wir ihn im zusammenhang mit wahrnehmung. ein realitätsverlust bedeutet also eigentlich ein wahrnehmungsverlust.
    umso weniger ich wahrnehme, desto weniger realität kommt bei mir an.
    realität kannn überhaupt nur durch wahrnehmung erzeugt werden. darum gibt es nichts, was wir als absolute realität erfassen können, da wahrnehmungen immer relativ durch den wahrnehmenden sind, also mehr oder minder subjektiv. die wissenschaften erzeugen nun z.b. wahrnehmungssysteme, die durch gesetzmäßigkeiten und durch die mathematik gewissermaßen eine allgemeingültige realität beschreiben. doch eben auch nur in klar definierten grenzen.
    politiker leiden dann an realitätsverlust, wenn ihre wahrnehmung von der wahrnehmung des volkes maßgeblich abweicht, umso länger sie im politischen geschäft tätig sind. damit führen sie sich als volksvertreter ad absurdum. ein diktator wie mubarak hat diesen anspruch per se nicht. darum leidet er auch nicht an realitätsverlust sondern an größenwahn.

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