Ein offener Brief an die Biologen

Gastbeitrag von Eberhard von Goldammer

Betrifft: Vortrag vom 30.05.2011/ Macht die Natur Fehler?/

Am 30.05.2011 fand an der Universität Dortmund im Rahmen der „Interdisziplinäre Veranstaltungsreihe – Biologie und Gesellschaft“ ein Vortrag statt über das Thema „Macht die Natur Fehler?„.

Im Anschluss an diesen Vortrag fand dann – wie in diesem Kreis üblich – eine sehr offene und länger andauernde Diskussion statt, was bedeutet, dass das Thema sowie der Vortrag im Publikum auf große Resonanz gestoßen ist. Ich selbst habe gegen Ende der Diskussion die Frage aufgeworfen, ob der Begriff des Fehlers unter Umständen auch vom jeweiligen Standpunkt der Betrachtung einer Situation/Entscheidung abhängt. Ich war erstaunt, dass dies zu ziemlicher Verwirrung geführt hat – was mir bei Geisteswissenschaftlern – etwa Psychologen oder Juristen – vermutlich nicht passiert wäre. Da ich der Ansicht war und bin, dass dies eine sehr grundsätzliche Frage ist, habe ich den folgenden (offenen) Brief an die Biologen verfasst, der einfach zum Nachdenken und zur Diskussion über diese Fragestellung anregen soll – mehr nicht.

* * * *

Liebe Biologen,

ich war und bin immer noch überrascht, dass ich im Rahmen der Diskussion nach dem Vortrag „Macht die Natur Fehler?“ mit meinem Einwand einer möglichen Standpunktabhängigkeit von Fehlern auf soviel Nicht- oder (Un-?)Verständnis gestoßen bin.

Im Jahr 1947 hat der bekannte Computer-Pionier und Mathematiker Alan M. Turing vor der Londoner Mathematischen Gesellschaft in einem Vortrag folgende (sehr nachdenkenswerte) Aussage gemacht: „… if a machine is expected to be infallible, it cannot also be intelligent.“ Das kann doch nur heißen, dass eine intelligente Maschine eine Maschine sein muss, die in der Lage ist, aus eigener Leistung Fehler machen zu dürfen – oder, anders ausgedrückt:  Eine Maschine kann dann, wenn erwartet wird, dass sie unfehlbar ist, nicht auch intelligent sein. Diese Aussage gilt selbstverständlich nicht nur für technische Artefakte: Unfehlbarkeit und Intelligenz schließen sich gegenseitig aus.

Fairerweise muss man hinzufügen, dass es bis heute derartige intelligente Maschinen noch gar nicht gibt, auch wenn die Gemeinde der Künstlichen-Intelligenz-Forscher mitunter behauptet, diese Maschi­nen bereits konstruiert zu haben. Eine intelligente Maschine müsste zumindest lernfähig sein um auf­grund ihrer Wahrnehmungen (aus der Umgebung) ihr Verhalten (aus eigener Leistung !!) verändern oder eben nicht verändern zu können. Das kann aber nur heißen, dass eine Maschine (aus eigener Leistung, also nicht vorprogrammiert!) in der Lage sein muss, ihren Algorithmus (das Programm) um­zuschreiben oder eben nicht. Dazu muss diese Maschine nicht nur über kognitive sondern auch über volitive Eigenschaften verfügen, d.h. aus eigener Leistung eine Entscheidung darüber treffen zu können, ob sie ihr Verhalten (ihr Programm) verändern soll oder eben nicht. Bis heute gibt es derartige Maschinen nicht – warum es so ist, wie es ist, das will ich jetzt nicht näher begründen, denn das würde hier zu weit führen.

Nun zeichnen sich lebende Systeme ja gerade dadurch aus, dass sie über kognitiv-volitive Fähigkeiten per se verfügen und das gilt selbstverständlich auch für die Pflanzen – ich betone „Kognition und Voli­tion“ – nicht umsonst gibt es heute Biologen, die den (umstrittenen) Namen „Pflanzen-Neurobiologie“ eingeführt haben. — Über das Verhältnis „Lebender Systeme zu ihrer jeweiligen Umwelt“ verweise ich auf Namen wie: Jakob von Uexküll, Adolf Portmann, Joachim Illies, …, Humberto Maturana, Francesco Varela, …., Imanishi Kinji  … und so weiter … – um nur einige Namen zu nennen.

— Ich hoffe, dass sie mir bis hierher noch zustimmen können —

Unter Kognition verstehe ich dabei die Fähigkeit eines Systems – aus eigener Leistung(!) –, eine Unter­scheidung zwischen sich und seiner Umgebung treffen zu können; – das ist eine kybernetische und keine psychologische Beschreibung von Kognition, die aber in jeder psychologischen Beschreibung von Kognition mit Sicherheit enthalten sein muss; – wenn man also diese offensichtliche und relativ einfache Beschreibung von Kognition zugrunde legt, dann wird deutlich, dass lebende Systeme – von ihrem Standpunkt aus betrachtet – immer eine Umgebung haben (müssen), denn sonst verfügen sie über keine kognitiven Fähigkeiten! Allerdings unterscheidet sich diese Umgebung von der Umgebung, die der Beobachter des von ihm betrachteten lebenden Systems infolge seiner kognitiven Fähigkeiten erhält. Wir können nämlich nicht wahrnehmen, wie Bienen die rote oder gelbe Farbe einer Blume wahrnehmen – schlimmer noch, wir können noch nicht einmal wahrnehmen, wie unser/unsere (Lebens-)PartnerIn das Abendrot der untergehenden Sonne wahrnimmt, wenn wir mit ihm/ihr gemeinsam einen Sonneuntergang beobachten. Darüber müssen wir kommunizieren. Was folgt daraus?

Die wahrgenommene Umgebung einzelner Lebewesen ist selbst dann unterschiedlich, wenn diese Lebewesen zur selben Art (was immer Art im Einzelnen bedeuten mag) gehören. Bei uns Menschen liegt das schon an den verschiedenen sozialen, kulturellen, etc. Hintergründen jedes Einzelnen. Wie das im Volk der Bienen aussieht, also von Biene zu Biene – das weiß ich nicht, aber auch sie kommuni­zieren untereinander und das hat seinen Grund, warum es so ist, wie es ist.

Wenn sie mir bis hierher folgen konnten, was ich hoffe, dann müssen sie mir Recht geben, wenn ich sage, dass für die (formale) Beschreibung kognitiv-volitiver Prozesse eine standpunktabhängige Theo­rie notwendig ist. Eine (formale) Beschreibung derartiger Prozesse bedeutet nichts anderes als die Ent­wicklung (formaler oder semi-formaler) Modelle mit dem Ziel, diese letztendlich einmal in eine Maschine zu implementieren. Sie können als Biologen ja schließlich nicht unter Zuhilfenahme von (schon fertigen?) Proteinen, DNA, Wasser und anderen Ingredienzien das Innen- und Außenleben einer biologischen Zelle in der Retorte nachbilden, so wie man in der anorganischen Chemie die Knallgas­reaktion im Labor ablaufen lassen kann und nicht als Simulation im Computer – kein Mensch käme auf die Idee, die Knallgasreaktion im Computer zu simulieren, für eine biologische Zelle sieht das voll­kommen anders aus – oder irre ich mich da vielleicht? Hier trifft sich die Biologie mit den Computer­wissenschaften – das wussten bereits die Altvorderen Norbert Wiener, Warren St. McCulloch, Ross Ashby und viele andere und zwar schon vor ca. 60 bis 70 Jahren – dass es bis heute noch nicht gelun­gen ist, die Organisationsstruktur und Funktion einer biologischen Zelle im Computer darzustellen, muss ja wohl tief liegende (schwerwiegende) wissenschaftslogische Gründe haben – und das ist auch so!

Und nun zurück zur Standpunktabhängigkeit von Fehlern.

Dazu möchte ich wieder auf ein technisches Beispiel zurückgreifen. Nehmen wir an, sie fahren im Auto vom Ort A zum Ort B. Wenn sie wissen, dass sie bei der nächsten Kreuzung nach rechts abbiegen müssen und dazu das Lenkrad entsprechend drehen und das Auto trotzdem geradeaus weiter fährt, dann ist das ein Fehler, der standpunktunabhängig ist – das wäre zwar ein fataler mechanischer Fehler in der Lenkung, aber vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus gesehen, ist das eine banale Ange­legenheit.

Stellen wir uns jetzt ein Automobil der Zukunft vor, das eigenständig fährt und über gewisse kognitiv-volitive Fähigkeiten verfügt. Wenn sie also in einem derartigen Fahrzeug an die besagte Kreuzung gelangen, an der das Fahrzeug, um auf dem direkten Wege nach B zu gelangen, nach rechts abbiegen müsste und das Fahrzeug wiederum geradeaus weiter fährt anstatt nach rechts abzubiegen, dann wissen sie nicht, ob hier ein Fehler vorliegt oder nicht – jedenfalls wissen sie es solange nicht, solange sie keine Information von diesem technischen Artefakt bekommen, oder eben solange nicht, bis sie am Ort B – wenn auch auf Umwegen – schließlich eintreffen. Das Fahrzeug hat dann von seinem Standpunkt aus keinen Fehler begangen, wenn es aus seiner Umgebung Funk- und/oder andere Signale beim Errei­chen der besagten Kreuzung erhalten hat, aus denen es schließen musste, dass es auf der ursprünglich geplanten Fahrstrecke einen Verkehrsstau gab. Wenn also das intelligente Fahrzeug aus dieser Nach­richt – aus eigener Leistung(!) – die Entscheidung trifft, einen Umweg zu fahren, so hat es – von seinem Standpunkt aus – logisch-rational entschieden und gehandelt. Erfährt der Fahrgast, wenn er denn am Ort B (z.B. am Bahnhof) angekommen ist, und seinen Zug infolge des gemachten Umwegs – als Folge der Entscheidung des autonomen Fahrzeugs – verpasst hat, dann mag er diese Entscheidung als eine Fehlentscheidung des Fahrzeugs interpretieren, vor allen Dingen dann, wenn er erfährt, dass der Stau zwar existiert hat, aber eben nur relativ kurzzeitig. Die Entscheidung des technischen Arte­fakts bleibt dabei von dem Standpunkt dieses Fahrzeugs aus betrachtet immer noch logisch-rational und ein Fehler ist es nur vom Standpunkt des Fahrgastes aus gesehen in Relation zur Dauer der Stau­situation.

An dieser Stelle sollte zumindest die Bemerkung von Alan Turing vor der Londoner Mathematischen Gesellschaft aus dem Jahr 1947 verständlich geworden sein und zwar auch dann, wenn es derartige technische Artefakte, die über gewisse kognitiv-volitive Fähigkeiten verfügen müssten, bis heute noch gar nicht gibt. Wer aber glaubt, dass es die nie geben wird, der irrt sich gewaltig. Wenn es sie denn gibt, dann werden auch die Biologen, die Soziologen – kurz alle Wissenschaftler, die sich irgendwie mit lebenden Systemen und deren (wissenschaftlicher) Beschreibung beschäftigen, es gar nicht mehr verstehen, dass im Jahr 2011 ihre Altvorderen die Notwendigkeit der Entwicklung und Einführung einer standpunktabhängigen Systemtheorie noch nicht einmal im Ansatz für notwendig erachtet haben – die oben erwähnten Biologen Uexküll, Portmann, Illies, …, Maturana, Varela, … Imanishi …und viele andere … ausgenommen! –

Wem das alles als unsinniges Geschwätz erscheint, der sollte sich einmal beispielsweise die Arbeiten des Biochemikers/Genetikers James A. Shapiro ansehen, z.B. „Genome Informatics: The Role of DNA in Cellular Computations„, da liest man bereits im Abstract folgende Aussage:

„Cells are cognitive entities possessing great computational power. DNA serves as a multivalent infor­mation storage medium for these computations at various time scales. …“ [Hervorhebung_EvGo]

Ich erwähne Shapiros Namen – viele andere wären auch möglich – weil er derjenige ist, der – meiner bescheidenen Meinung nach – die Begrenztheit unseres heutigen Wissenschaftsparadigmas zur Beschreibung zellulärer Vorgänge in lebenden Systemen am deutlichsten auf den Punkt bringt. Auch seine konstruktiv-kritischen Arbeiten über den Stand der heutigen Evolutionstheorie – vor allen Dingen was das Zufallsprinzip anbelangt – gehört zu den lesenswerten Beiträgen, die man auf seiner Home­page finden kann: http://shapiro.bsd.uchicago.edu/ Ich vermute – nein, eigentlich bin ich sicher –, dass Shapiro einer Aussage wie „ohne Kopierfehler keine Evolution“ vehement widersprechen würde – ich widerspreche übrigens auch, aber meine Meinung ist vielleicht nicht sonderlich maßgebend.

Nun noch etwas zur der Evolutionstheorie selbst im Kontext von Standpunktabhängigkeit.

Der Philosoph Morton Beckner schrieb 1959 in seinem Buch „The Biological Way of Thought“ (im Kapitel „Selection Theory“):

„… My own view is that evolution theory consists of a family of related models; that most evolutionary explanations are based upon assumptions that, in the individual case, are not highly confirmed; but that the various models in the theory provide evidential support for their neighbors. The subsidiary hypotheses and assumptions that are made for the sake of particular explanations in one model recur again and again in other related models, with or without modification and local adaption. To use the metaphor of Agnes Arber, biological theory is less ‚linear‘ than, e.g., physical theory, and is more ‚reticulate‘ (Agnes Arber: The Mind an the Eye, p. 46)“.

Ich wurde vor etwa 10 Jahren von einem Kollegen auf Morton Beckners Zitat aufmerksam gemacht, nachdem ich auf einer Kybernetiker-Tagung über die Möglichkeiten einer standpunktabhängigen Systemtheorie vorgetragen hatte. Damals habe ich mich aber noch nicht sehr intensiv mit Evolution und der Struktur einer Evolutionstheorie beschäftigt, so dass ich der Sache nur halbherzig nachge­gangen bin – dank meines Computers hatte ich diese Information aber abgespeichert und vor einigen Monaten wieder „ausgegraben“. Eine Recherche hat dann ergeben, dass Beckner in dem Buch von Mahner/Bunge (Foundations of Biophilosophy) zitiert wird und siehe da in einem ganz ähnlichen Kontext, wie er mir vorschwebte. Beckners Zitat hat Ende der 1970er Jahre zu einigen weiterführenden Publikationen geführt, die sie, wenn sie sich mit der Struktur der Evolutionstheorie wissenschaftstheo­retisch auseinandersetzen, eigentlich kennen sollten. Hier die Literaturstellen, auf die ich mich beziehe:

Arthur Caplan, Testability, Disreputability, and the Structure of the Modern Synthetic Theory of Evolu­tion, Erkenntnis 13 (1978) 261‑278.

Ralph W. Lewis, Evolution: A System of Theories, Perspectives in Biology and Medicine, 23 (1980) p. 551-572.

Juha Tuomi, Structure and Dynamics of Darwinian Evolutionary Theory, Syst. Zool., 30(1), 1981, pp. 22‑31.

Diese Literaturstellen habe ich dem Buch von Mahner/Bunge entnommen, einem Buch, das es übrigens auch in deutscher Übersetzung gibt; dort schreiben die Autoren:

„Es sieht also so aus, als gäbe es verschiedene Partialtheorien über Evolution, von denen jede einen ande­ren Aspekt des Evolutionsgeschehens behandelt. Doch es scheint keine allgemeine oder hyperallgemeine Theorie der Evolution aller Organismen zu geben. Folglich scheint die Evolutionstheorie eher eine Sammlung von Theorien darzustellen, bestenfalls ein System von Theorien (Beckner 1959; Caplan 1978; Lewis 1980).“

Und einige Abschnitte weiter heißt es dann:

„Obwohl es also keine (hyper)allgemeine ET [ET: Evolutionstheorie, EvGo] für alle Organismen zu geben scheint, so verfügen wir doch über zwei allgemeine Theorien, nämlich die Selektionstheorie und die Theo­rie der Populationsgenetik. Deren Allgemeinheit und deren Kapazität, abhängige Modelle zu generieren, dürfte einer der Gründe für deren weite Verbreitung und Anerkennung in der Evolutionsbiologie sein.

Zur ET sollten aber mehr als nur diese zwei Theorien gehören: Wir brauchen nicht nur eine Theorie der generationenübergreifenden Verteilung von Genotypen, sondern auch eine Theorie über die Entstehung neuer Phänotypen, d.h. eine Theorie der organismischen Speziation. So brauchen wir eine Theorie der Mutation und eine Theorie der Entwicklung. Man beachte, dass wir hier mit ‚Theorie‘ eine Theorie über die allgemeinen Mechanismen dieser Vorgänge meinen und nicht nur eine Beschreibung von ihnen. Wir müssen diesen Punkt hervorheben, weil bloße Beschreibung allzu oft als Theorie durchgeht. Obwohl wir z.B. über höchst detaillierte Beschreibungen der Proteinsynthese verfügen, gibt es keine Theorie der Pro­teinsynthese. […]

Einer der ersten, die sich mit dieser Frage beschäftigten, war Beckner (1959), der glaubte, die ET sei eine ‚Familie verwandter Modelle‘ (S. 160). Diese von Beckner eher beiläufig formulierte These wurde von Caplan (1978) ausgearbeitet, der seine Version die ‚Geordnete‑Mengen­-Konzeption‘ der ET nannte. Lewis (1980) betrachtete die ET als ein System von Theorien, und Wassermann (1981, S. 419) als eine ‚Hyper­theorie, die eine Menge subordinierter Theorien umfaßt‘. Die miteinander in Beziehung stehenden Theo­rien bzw. Modelle in diesen Auffassungen gehören alle in etwa zur gleichen Ebene, d.h. es handelt sich dabei nicht um eine Familie abhängiger Modelle, sondern entweder um eine Menge un­abhängiger Modelle oder um eine Menge allgemeiner Theorien, die abhängige Modelle generieren kön­nen. Sie passen somit eher zu dem, was Tuomi (1981, 1992) das ‚Netzmodell‘ der ET genannt hat. Diese Theorien scheinen in der Tat referentiell und evidentiell verwandt, d.h. sie bilden ein System von Konsilienzen (Whewell 1847; Ruse 1988). Zudem sind sie miteinander verträglich und schränken daher die Theorie‑ und Modellbildung in den verschiedenen Disziplinen ein (Caplan 1978), d.h. sie lenken sie in bestimmte Bahnen und gestatten keine Beliebigkeiten. Sie liefern mit anderen Worten ein einheitliches Bild der Evolution, aber sie stellen keine vereinheitlichte allgemeine Theorie der Evolution dar.

Die ET kann also gegenwärtig als ein System von Theorien betrachtet werden. Dann sind die einzelnen Theorien als Komponenten dieses Systems aber keine Subtheorien: Eine Subtheorie ist eine Teilmenge der Haupttheorie (siehe Abschn. 3.5.3). Doch dem System von Theorien, das wir ‚Evolutionstheorie‘ nennen, fehlt die logische Einheitlichkeit einer Theorie im eigentlichen Sinne, so daß die Teiltheorien nicht aus anderen Teiltheorien oder aus dem System als Ganzem abgeleitet werden können, wie dies bei einer Sub­theorie der Fall ist.“

Wer sich etwas mit dem Aufbau und der Struktur wissenschaftlicher Theorien beschäftigt hat, kommt sehr schnell zu dem Schluss, dass eine Evolutionstheorie kein deduktiv geschlossener Kontext – also keine axiomatisch aufgebaute einheitliche Theorie sein kann. Und genau das geht auch aus dem obigen Zitat, das ich bewusst in dieser Länge gewählt habe, deutlich hervor. Es macht aber auf Dauer auch keinen Sinn, einen Sack voll Partialtheorien zu besitzen, die aus formaler Sicht unvermittelt neben­einander stehen – auf diese Weise kann die Biologie niemals zu einer „strengen“ Wissenschaft, geschweige denn zu einer „exakten“ Wissenschaft mutieren. – Aber vielleicht wollen die Biologen das auch gar nicht.

Dieses Zitat bzw. die von Mario Bunge und Martin Mahner zitierten Arbeiten „schreien“ förmlich nach einer standpunktabhängigen ET oder allgemeiner nach einer standpunktabhängigen Systemtheorie, in der die einzelnen Theorien logisch vermittelt („mediation“) werden können. Wie diese Theorie aus­sehen wird, das ist aber eine andere, eine eigene Geschichte hinter der sich Begriffe wie „Polykontex­turalität“, „polykontexturale Logik“, „Morpho- und Kenogrammatik“ und/oder „nebengeordnete Zah­len“ verbergen – alles Begriffe, die im heutigen Scientific Mainstream noch nicht einmal im Ansatz angekommen sind, aber das alles ist nicht mein Problem. Es wird aber für die Biologen zu einem Problem, wenn nach dem Mechanismus der Evolution gefragt wird. Auf der Basis eines monokontex­turalen Wissenschaftsansatzes, wie er durch die Mathematik und die klassische Logik gegeben ist, können die Biologen als „Antrieb“ für evolutive Prozesse eben immer nur das Prinzip des Zufalls anführen. Aus einer poplykontexturaler Sicht der Welt sieht das ganz anders aus, da  bilden evolutiv-emanative Prozesse gerade die Basis für die Existenz einer derartigen Theorie.

Ich hoffe, sie nehmen meinen Beitrag, den ich nicht als Kritik sondern als einen kleinen Denkanstoß ansehe, nicht persönlich und vor allen Dingen nicht übel.

Mit den freundlichsten Grüßen,
Eberhard von Goldammer

PS_1: Da fällt mir noch ein, dass Sie, lieber Herr Kollege R. am Ende der Veranstaltung erzählt haben, dass Sie „evolutionäre Algorithmen“ verwenden. Ich möchte Sie da auf ein kleines Problem hinweisen. Alle Varianten, die unter dem Etikett der „evolutionären Algorithmen“ versammelt sind, benötigen immer eine Ziel- oder Fitness- oder Optimie­rungsfunktion – das sind nur unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Idee, nämlich dafür zu sorgen, dass das heuristi­sche Verfahren auch konvergiert, also zu einer (optimalen) Lösung führt – ohne eine solche Funktion wäre das Selektions­verfahren, das bei diesen heuristischen Algorithmen durchgeführt wird, gar nicht möglich. Diese Zielfunktion muss vom Programmierer vorgegeben werden – und damit taucht ein Problem auf, denn als Modell für eine Evolutionstheorie taugen die „evolutionären Algorithmen“ nicht und zwar einfach deshalb, weil die Zielfunktion die Existenz eines „intelligenten Designer“ impliziert. Ich habe sehr gelacht als ich in dem Buch „Evolutionsbiologie“ von U. Kutschera auf Seite 228f. die „evolutionären Algorithmen“ als (experimentellen) Beleg für die Evolution entdeckt habe. Der Kampf gegen Kreationismus und Intelligent Design (ID) macht eben manchen manchmal blind — J.

PS_2: Eine kleine – wirklich nur sehr kleine, aber immerhin – „Einführung in die Theorie der Polykontexturalität“ findet man in „Vom Subjekt zum Projekt oder vom Projekt zur Subjektivität!„. Das war ein Beitrag für ein Buch über eine Ringvorlesung, die von Studenten der Universität Oldenburg unter dem Titel „Wozu noch Geisteswissenschaften“ im Jahr 2005 organisiert worden war. Der Text ist entweder im BIS-Verlag der Univer­sität Oldenburg (Titel: „Wozu noch Geisteswissenschaften“) oder unter <http://www.vordenker.de/vgo/vgo_publications.pdf> erhältlich

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