Offener Brief an Günter Grass

Zu den Kulturtechniken des Schreibens

Sehr geehrter Herr Grass,

Sie gelten als ein Intellektueller und prominenter Meinungsprägender in der Kultur- und Feuilletonwelt der BRD, der sich zudem aktiv politisch engagiert. In Ihrem Interview im Spiegel Nr. 33, 2010, S. 118-122, treffen Sie Aussagen über die Praktiken des Mediengebrauchs und über die Produktionsweisen jüngerer Kollegen, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen.  So sagen Sie zum Thema digitaler Leseangebote:

Grass: Ich würde diese Entwicklung hin zum Lesen auf Computern gern aufhalten, aber das kann offenbar niemand. Dabei werden die Mängel des elektronischen Verfahrens bereits beim Erstellen des Manuskripts offenkundig. Die meisten jungen Autoren schreiben direkt in den Computer, verändern und arbeiten in ihren Dateien. In meinem Fall dagegen existieren zahlreiche Vorstufen: eine handschriftliche Fassung, zwei, die ich selbst mit meiner Olivetti-Schreibmaschine getippt habe, und schließlich mehrere Ausdrucke von Fassungen, die meine Sekretärin in den Computer eingegeben und ausgedruckt hat und in die ich jeweils zahlreiche handschriftliche Korrekturen eingearbeitet habe. Solche Arbeitsgänge gehen verloren, wenn man gleich am Computer schreibt.

SPIEGEL: Kommen Sie sich mit Ihrer Olivetti nicht altmodisch vor?

Grass: Nein. Im Computer sieht ein Text immer irgendwie fertig aus, auch wenn er es längst nicht ist. Das verführt. Ich schreibe die erste, handschriftliche Fassung meist in einem Guss, und wenn mir etwas nicht einfällt, lasse ich eine Lücke.
In der Olivetti-Fassung fülle ich diese Lücken, und durch die Gründlichkeit setzt sich in den Text auch eine gewisse Umständlichkeit. Bei den folgenden Fassungen bemühe ich mich, das Ursprüngliche der ersten mit der Genauigkeit der zweiten zu verbinden. Bei diesem langsamen Vorgehen ist die Gefahr geringer, dass sich Glätte und Beliebigkeit einschleichen.

Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion Ende der Neunziger in Düsseldorf mit dem Medienkritiker Claus Eurich, in der er – aus einer deutlich kulturpessimistischen Perspektive – eine der Ihren ähnliche Sichtweise zum Besten gab.

Wie kommen Sie nun dazu? Haben Ihnen junge, mit Computern arbeitende Autoren erzählt, wie sie arbeiten? Haben Sie sie beim Schreiben beobachtet?

Ich kenne außer meiner Person eine ganze Reihe zeitgenössischer Autoren und Lektoren, auf die Ihre Diagnose in keiner Weise zutrifft. Mehrere Versionen eines Textes, ob Prosa, ob Essay, ob wissenschaftlcher Text, ob Lyrik, im Computer auch über die publizierte Version hinaus zur Verfügung zu halten, ist für uns obligatorisch. Bei mir beginnt dies mit ersten Ideen, die ich mit einem mp3-Recorder aufnehme und anschließend verschriftliche, so wie sie gesprochen worden sind. Sogar diese Audioaufnahmen hebe ich auf. Die Ausarbeitung der Texte erfolgt dann über – je nach Text – bis zu 5 Stufen, die ich ebenfalls archiviere.

Diese neuen Kulturtechniken des Schreibens stellen im Gegensatz zu Ihrer Auffassung und der von Ihnen gelebten Verfahrensweise sogar eine Befreiung dar, da es nun auch nicht hauptberuflich tätigen Autoren möglich, bzw. wesentlich erleichtert ist, Autorenschaften und Publikationen zu realisieren. Ihre Warte scheint mir  – bei allem Respekt – vielmehr aus der Elfenbeinturm-Position eines hauptberuflichen und erfolgreichen Literaten gewonnen zu sein, der – folgt man der Kulturkritik eines Vilém Flusser – ebenso wie der reine Künstler, der Wissenschaftler und der Techniker ein „Produkt“ der Industriegesellschaft ist.

„Die Industriegesellschaft hat die Tatsache verleugnet, daß „Kunst“ ein Synonym von „Technik“ ist und von „Methode“, von „Know how“, von „Wertung“. Indem sie die Kunst vergöttert hat, hat sie sie entwertet und in ein Ghetto getrieben. Darum ist die Industriegesellschaft die einzige Gesellschaft, die Häßliches, zum Beispiel die Industriestädte des neunzehnten Jahrhunderts, hergestellt hat.“[1]

Ist Ihnen wirklich nie die Idee gekommen, im Rückgang auf Platons Kritik der Schriftlichkeit im Phaidros zu fragen, ob diese medienkritischen Positionen seit Platon nicht einem historischen Muster der Wiederholung folgen, die eine medienkritische Sichtweise als die eines „Früher war alles besser“ demaskiert? Und zwar als ein Repetitionsmuster, dass das Neue immer und grundsätzlich zunächst als eine bloße Technologie der Verführung abkanzelt?

Sie befinden sich – das kann nicht verschwiegen werden – mit ihrer im Spiegelgespräch geäußerten Position ja wirklich in geradezu erlesener Gesellschaft. Auch Shakespeare war ein erklärter Kritiker des technisch Neuen, in seinem Fall war dies Gutenbergs Buchdrucktechnik. Er kritisierte vor allem, dass nahezu jedermann die Druckerpresse als Unsterblichkeitsmaschine missdeutet.

Allerdings bin ich mir sicher, dass zumindest Platon sich der Ambiguität seiner Schriftkritik bewusst gewesen ist, sonst hätte er sie nicht aufgeschrieben. Und prominenten deutschen Literaturschaffenden stünde es sehr gut zu Gesicht, sich ebenfalls einer gewissen platonischen Gelassenheit zu befleißigen, insbesondere im Hinblick auf die neuen und spannenden kulturtechnischen Praktiken der Schreibproduktion. Niemand macht Ihnen Ihre Arbeitsweise strittig. Es ist die eines Literaten der Industriegesellschaft.
Die Literaten der postindustriellen Gesellschaften werden andere Arbeitsweisen etablieren.

Und es ist gut, dass es niemand gelingt, diese Entwicklung aufzuhalten.
Ach übrigens, ich habe die über den 2001-Verlag erhältliche Digitalversion von „Das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm“ seit Jahren auf meinem PC fest installiert. Das Buch ist mein ständiger Begleiter.

Mit freundlichen Grüßen,

Nick H.

Quellenangaben:

[1] Flusser, Vilém; Unsere Schule, Essay aus: Nachgeschichte, S. 109-114, Fischer TB, Frankfurt a.M., 1997, Dt. Erstveröffentlichung (leicht gekürzt) in: Vilém Flusser, Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen, Hrsg. Volker Rapsch, Düsseldorf 1990 (Bollmann Verlag);
Geschrieben 1981, Veröffentlichung der portugiesischen Fassung unter dem Titel „Pós-história“ 1982 bei Duas Cidades, São Paulo

Ein Gedanke zu „Offener Brief an Günter Grass

  • 29. August 2010 um 09:35 Uhr
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    Die Frage muß erlaubt sein, ob Autoren nicht wie jeder andere Mensch auch ein Recht auf Rente ab dem 67 Lebensjahr haben. Ob nicht einmal die Zeit kommt, da aus den immer wieder apostrophierten „Altmeistern“ einfach nur alte Männer geworden sind. Ob kreative Visionen nicht auch ein Verfallsdatum haben. Wir dürfen uns das fragen, denn erstens ist dies eine ganz normale Frage, und zweitens beantwortet die Realität dessen, was die Altmeister den Verlagen anbieten die Frage selbst aufs deutlichste. Es gibt inzwischen eine ganze Generation, die ohne Günter GraSS auszukommen sich angewöhnt hat und auf diese Form der Gesinnungsästhetik, von politischem Erhabenheitskitsch mit vulgär–marxistischem Pathos a la „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990“ verzichten kann. Das ist der Nachteil des Alters: Er entdeckt, daß die Welt sehr gut ohne einen auskommt. Über die kritischen Äußerungen auf seine Zwiebel-Biographie sprach Günter GraSS von „Entarteter Presse“, die Kritik an seinem langen Schweigen über die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS grenze an einen „Vernichtungsversuch“. Als man ihn daran erinnerte, welchen Platz der Begriff „entartet“ im Wörterbuch des nationalsozialistischen Unmenschen einnimmt, gestand er zu: „Ich korrigiere das Wort“, hielt aber in der Sache an seinem Vorwurf fest.

    Nun verabschiedet sich GraSS mit einem Porträt der Gebrüder Grimm, er nennt es sein »wahrscheinlich letztes Buch«. Dem Belegwörterbuch steuert er den „Fernsehphilosophen“ den er folgendermaßen beschreibt: „Ein Fernsehphilosoph« ist, wem die Seifenblasen bonbonfarben vom Munde fliegen und schillern, bis sie platzen: wohlfeiles Gefasel, das bis ins Feuilleton Widerhall findet“. Ist das nun die seit seinem 67. Geburtstag erwartete Alterweisheit?

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