Neuronen haben keinen Sex – über die Unzureichendheit gängiger Internetmodelle

Spätestens seit Pierre Levy’s Werk „Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace“ geistert eine Idee in Form einer Analogie durchs Netz, die mir eher geeignet scheint, den Blick auf Wesentliches zu verstellen, denn erhellend zu wirken. Gemeint ist hier die Vorstellung vom Internet als eine Art planetares Riesenhirn, in dem die Teilnehmer, also wir, so etwas wie die Neuronen sind, bzw. sein sollen. Im letzten Jahr auf der Open Mind 10 in Kassel wurde diese Idee ein weiteres Mal von Jean-Pol Martin in einem gleichwohl sehr charmanten Vortrag thematisiert.

Zugegeben, die Idee hat etwas für sich, seit wir von Selbstähnlichkeiten aus der Mathematik wissen, wo sich Strukturähnlichkeiten in kleinen Skalierungen im Großen wiederfinden lassen und umgekehrt, wie z.B. in den Julia-Mengen Benoit Mandelbrots. Diese Idee ist Ausdruck des Wunsches, den mit dem Internet verbunden scheinenden Komplexitäten wenigstens über die Vorstellung ein kleines bisschen Herr zu werden und der erschlagenden Phänomenologie des Netzes eine Analogie im Sinne eines „Das Internet ist etwa so wie …“ an die Seite zu stellen, Vertrautheit mit dem bislang Unvertrauten zu gewinnen.

Darüber hinaus besitzt die Netzwerkmetapher an und für sich einen gewissen Charme, eine Sexyness, der selbst eher emotional bestimmte Personen etwa aus dem grünen politischen Spektrum etwas abgewinnen können, suggeriert sie doch im Überall-Vernetztsein ein wärmendes Aufgehobensein unter Gleichgesinnten, das den so Geborgenen wenigstens zeitweise von der Verantwortung für direktes eigenes Handeln suspendiert.

Flankiert wird diese Vorstellung für ihre Protagonisten zudem von weiteren Auffassungen, so z.B. denen, dass im Netz nur noch Senden und Empfangen – auf „neuronisch“ Feuern und Verrechnen von Aktionspotentialen anderer Neuronenkollegen – eine Rolle spiele und dass das Individuum zunehmend unwichtiger werde, dass das Ich als Ich und damit auch der freie Wille nicht existiere, und dass das Bewusstsein bestenfalls als ein Epiphänomen neuronaler Aktivitäten auftrete. Diese zum Teil von neueren Ergebnissen der Hirnforschung stimulierten Schlussfolgerungen – ihre Richtigkeit sei hierdurch nicht bestätigt – befeuern andererseits wieder unter dem Rubrum „Transhumanismus“ entwickelte Vorstellungen, die Humanes unter Zuhilfenahme technischer Tools in ein Transhumanes transformiert sehen wollen.

Sicher, Bewusstsein und Ich als begriffliche Operanden diverser Spielarten der Geisteswissenschaften entziehen sich seit Jahrhunderten hartnäckig einer positivsprachlichen begrifflichen Fassung. Bewusstsein als Begriff ist – wie ein Mathematiker sich vielleicht äußern würde – nicht positiv definit, das kann als Aussage unwidersprochen festgehalten werden.

Im Folgenden soll versucht werden, die Vorstellung vom Neuronenmodell der [Internet-]Menschheit einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, um Barrieren beiseite zu räumen und die Argumentationsräume wieder zu öffnen für wirklich Neues.

Positivsprachliches wird hierfür zunächst ausreichend sein.

1. Neuronen prozessieren und kommunizieren keine Information, wir schon.

Gegenüber den gängigen Auffassungen und dem allgemeinen Sprachgebrauch eine sicher erstaunliche Auffassung, gelten doch die Nervenzellen, die Neuronen, als die kleinsten Informationen verarbeitenden Einheiten im Körper. Genau genommen prozessieren und kommunizieren Neuronen aber Signale, nichts weiter. Ein Neuron „prozessiert“ i.d.R. die in seinem Dendritenbaum einlaufenden Signale als eine Funktion ihrer Summe in ein chemisches Potential, das bei Überschreiten eines bestimmten Schwellenwert genannten Wertes dazu führt, dass das Neuron über seinen Ausgang, sein Axon, feuert. Dabei ist es dem Neuron im Prinzip völlig egal, von wo die dendritischen Signale kommen, ob aus dem Auge oder von einem Drucksensor in der Haut. Die Information – Schmerz, helles rotes Licht oder Tasteindruck – ist eine Funktion nicht des Signals selbst, sondern der „Verkabelung“ der Neuronen untereinander! Die Information über die Art der Sinneswahrnehmung steckt also in der Topologie des Netzes, des Nervensystems, das individuelle Neuron spielt tatsächlich keine Rolle. Ein axonisches Signal codiert zunächst gar nichts! Provokant könnte man also sagen, dass was wir unter Information verstehen, ist in unserer Hardware, die eigentlich eine Wetware, eine biologische nasse Ware ist, fest eingebaut.

Nach der radikal-konstruktivistischen Auffassung ist es die Aufgabe unseres Nervensystems, eine mehr oder weniger stabile Realität zu „errechnen“.[1] Diese Aussage wird auch Postulat der epistemischen Homöostase genannt, weniger elaboriert ausgedrückt geht es also um ein „erkennendes Gleichgewicht.“

Das Neuronetz eines Menschen enthält etwa 100 Mrd bis eine Billion Neuronen, von denen weniger als 1% Sensoren an der Oberfläche sind, damit ist also unsere Realität zu mehr als 99% von Signalen unserer Innenwelt bestimmt!

Als radikalen Konstruktivisten möchte ich mich trotz des hier Erwähnten nicht bezeichnen. Der RK ist für mich eher ein fruchtbares Zwischenstadium auf dem Weg zu einer umfassenderen Erkenntnistheorie.

Die Bedeutung einer Signalansammlung aus der Umwelt eines Menschen – etwa aus dem Internet – wird also in der Innenwelt errechnet und ist desweiteren auch über Signale zum Kontext der Signale bestimmt. Woher und von wem in welchem Zusammenhang kommen die Signale?

Wird dies akzeptiert, kann ein Neuronenmodell des Internet zur Beschreibung des Geschehens nicht mehr hinreichend sein. Das Modell ist damit hinfällig.

2. Neuronen haben keinen Sex miteinander, wir schon.

Wer Sex miteinander hat, ob zu zweit, zu dritt oder zu noch mehreren oder im Swinger-Club, schert für die Dauer der sexuellen Aktion aus dem Gesamtverband in eine Fuck-Cloud mit 2 bis n Teilnehmern aus. Sex bei uns Menschen, und noch viel mehr die Liebe, produzieren antisoziales Verhalten, das vordergründig betrachtet nicht im Interesse aller ist. Das muss so sein. Sich nur auf einen Mitmenschen konzentrieren – ihm gerecht werden – zu wollen, erfordert das mehr oder weniger bewusste Ausblenden des ganzen Rests der Menschheit. Gäbe es kein derartiges antisoziales Verhalten, hätten wir keinen Begriff von sozialem Verhalten. Soziales Verhalten impliziert die Gewähr für antisoziales Verhalten. So gesehen ist Romeo und Julia ein Theaterstück mit antisozialem Impetus. Das macht seine Genialität aus und damit auch die des Autoren W. Shakespeare.

Ein Neuron schert niemals aus seinem Verband aus und „verhält“ sich gegen den Verband. Es produziert lediglich Ereignisse, keine Handlungen. Neue synaptische Verbindungen treten nie sprunghaft auf und existierende werden nie sprunghaft abgebrochen. Ein kleiner Neuronenverband lernt behavioral.

„Wenn das Axon einer Nervenzelle A nahe genug an einer Zelle B ist, um diese anzuregen, und das Axon A wiederholt an der Anregung von B beteiligt ist, dann findet in einer der Zellen oder in beiden ein Wachstumsprozess oder metabolischer Wechsel statt, so dass A’s Effizienz bei der Anregung von B zunimmt.“[2]

Dieses von Donald O. Hebb erstmals formulierte fundamentale psychophysikalische Gesetz des assoziativen Lernens ist nach unserem heutigen Kenntnisstand die einzige Art und Weise, über die synaptische Verbindungen zwischen Neuronen modifiziert werden, die wir halbwegs technisch modellieren und simulieren können. Heraus kommen Modellprogramme, die sich nach Ausführen eines behavioralen Lernprozesses verhalten wie statische nichtlineare Datenfilter, und damit hat es sich.

Lernen selbst ist in der Vergangenheit mehrfach schlüssig kategorisiert worden.[3] Ganz offensichtlich stehen uns als nicht-nur-neuronale Mehrzeller Möglichkeiten des Lernens und Verlernens von Verhaltensweisen offen, die vom Modellierungsansatz her nur als lernende Automaten, die ihrerseits wieder Automaten erzeugen und vernichten, gedacht werden müssen – mit dem Nachteil, dass dann Operatoren-Operanden-Verhältnisse in klassischen formalen Systemen Widersprüche produzieren.

Warum sollen wir diese Lernarten nicht ins Netz portieren? Es wäre dumm, das nicht zu tun und sich auf eine Art neuronalen Signalverkehr zu beschränken. Neuronen reflektieren nicht auf sich selbst, wenn man von einfacher Selbsterregung und Auto-Feedback einmal absieht. Wir aber schon.

Signal- resp. bloßer Datenverkehr degradiert das Internet zu einem reinen Instrument und uns damit zu Opfern oder Tätern. Das Netz ist aber weit mehr als ein Instrument!

3. Neuronen produzieren keine Kinder, wir schon.

So dann und wann hat heterosexueller Sex unter Menschen Nachkommen – neue Individuen im Netz – zur Folge. Diese werden in Zukunft langsam in das Netz hineinwachsen, mit zunächst einigen wenigen Verbindungen in der Umrahmung der elterlichen Relationenfelder. Doch früher als der Beginn der Pubertät werden autonome Wahlbindungen über das Netz gepflegt. Beobachtungen von Don Tapscott belegten dies bereits in den späten 90ern des vorigen Jahrhunderts.[4]

Neuronen sind asexuell. Sie vermehren sich durch Teilung. Passiert dies unkontrolliert, nennen wir das einen Tumor. Das Modell ist damit hinfällig.

4. Das Netz hat keinen Körper, wir schon.

Das hier kritisierte Modell entspringt einer cerebrozentristischen – ergo hirnfixierten – Sichtweise auf die Welt, ein Symptom der wissenschaftlichen Spätpostmoderne des Westens, das genau genommen und im Sinne einer umfassenderen Wissenschaftlichkeit unwissenschaftlich ist. In anderen Kulturen wird mit dem gesamten Körper gefühlt, gedacht und kommuniziert.

Bruce Chatwin erzählt in einem seiner Reiseberichte von einem Aborigine‑Ältesten, der zu einer Kon­ferenz nach Europa reist, dort die Städte London und Amsterdam kennenlernt und nach seiner Rückkehr in einem langen und ver­wickelten Lied von seinen Reiseerlebnissen berichtet – die Aborigines tanzen ihre Lieder!, – doch über den Reisebericht hinaus ist dieses Lied auch als Reiseführer, als Informationsübermittlung, ge­dacht, der jedem anderen Stammesmitglied, das vielleicht einmal in die Fußstapfen des Sängers treten wird, den Weg durch das La­byrinth des Londoner Flughafens Heathrow zu weisen vermag! [5] Ein phantastisches Beispiel für die Befähigung des Menschen zu prä-schriftlicher Kommunikation und Wissensspeicherung, das uns einen blassen Eindruck davon vermittelt, wie wir in den Frühstadien unserer Evolution kommuniziert haben.

Ohne Zweifel, und dennoch wir sind die Knoten im Internet.

Die Komplexität des Netzes als Allhirn-Problem ist nicht auf die des Neuronennetzes eines einzelnen Gehirns abbildbar. Die Analogie ist ein Fehlschluss.

Der Versuch der Anwendung biologischer Konzepte auf soziale Systeme hat leider eine gewisse Tradition. [6]

Hören wir damit auf, einzelne Ameisen mit Ameisenhaufen zu vergleichen.
Unsere Zukunft und die des Internet ist nichts für Feiglinge 😉
Entwickeln wir gemeinsam ein Modell einer planetaren Gesellschaft jenseits der biologischen Beschränkungen unserer physischen, optischen und akustischen Reichweite.

Und ICH will – auch im Netz – Spass haben, verdammt!

Fuck Digitalism! Anarchofun!

Nick H.

 

Fussnoten:

[1] Foerster, Heinz von; Kybernetik einer Erkenntnistheorie; in: Sicht und Einsicht, Braunschweig 1985, S. 65-80

[2] Hebb, Donald O.; The Organization of Behavior, John Wiley 1949

[3] Goldammer, E.v., Paul, Joachim; The Logical Categories of Learning and Communication – Reconsidered from a Polycontextural Point of View,
Kybernetes, Issue 1, 2007

[4] Tapscott, Don; Netkids; Gabler 1998

[5] Wills, Christopher; Das vorauseilende Gehirn – Die Evolution der menschlichen Sonderstellung; Frankfurt a.M. 1996; orig.: The Runaway Brain, The Evolution of Human Uniqueness; New York 1993

[6] Bühl, Walter L.; Die Grenzen der Autopoiesis; Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nr. 39, 1987,  S. 225-254

 

4 Gedanken zu „Neuronen haben keinen Sex – über die Unzureichendheit gängiger Internetmodelle

  • 24. April 2012 um 12:32 Uhr
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    Ja, das mit dem Fehlschluß, von Mensch auf Netz von Menschen (Internet) hat man auch anders rum: von mensch auf Netz von Neuronen (Gehrin).

    Da die sogenannte Selbstähnlichkeit virulent Diskurse infiziert (Scaling Hypothesis als schlimmste Ausgeburt davon) meint man, man könne einfach alles belassen wie es ist, und nur an der Skalierung drehen.
    Dabei heisst es ja SelbstÄHNLICHKEIT, nicht Selbstgleichheit oder Selbstselbigkeit, wobei einem bei etwas drüber nachdenken auch die Frage kommen kann, ob nicht auch der Begriff „Selbstähnlichkeit“ eigentlich schlecht gewählt ist, und zu anderen Assoziationen führt -ist das Selbst sich selbst nur ähmlich, statt etwas Anderem nur ähnlich zu sein?!
    Und ist Selbst etwas anderem nur Ähnlich, wieso redet man dann von Selbst-Ähnlichkeit, nicht nur von Ähnlichkeit.
    Mir scheint, der Begriff verleitet geradezu zu Denkfehlern.

    Das Problem Teil als Ganzes und Ganzes als Teil *gleichzusetzen* nennt sich übrigens Mereologischer Trugschluß, hat also bereite eine Bezeichnung.
    Wenn man dazu ein bischen recherchiert findet man eine Reihe interessanter Artikel.

    Gerade in der Hirnforschung/Neuroscience ist das Thema aktuell („freier Wille“-Diskurs).

  • 26. Mai 2011 um 22:07 Uhr
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    spannender Artikel, danke !

    „Das Neuronetz eines Menschen enthält etwa 100 Mrd bis eine Billion Neuronen, von denen weniger als 1% Sensoren an der Oberfläche sind“

    ich bin keine hirnforscherin, das vorweg, aber an dieser stelle finde ich es angebracht mal durch zu atmen 😉

    „damit ist also unsere Realität zu mehr als 99% von Signalen unserer Innenwelt bestimmt!“

    wer weiss was die 99% so alles treiben ? vielleicht spielen sie ungezählte varianten der verarbeitung und interpretation der von aussen kommenden reize durch ?? und entwickeln ganz nebenbei noch neue wahrnehmungsinstrumente 😉

  • 24. Mai 2011 um 17:19 Uhr
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    Als Ergänzung: Die Neuronenmetapher von Jean-Pol Martin stellt kein beschreibendes oder erklärendes Modell dar, sondern eben nur eine Metapher, die ein handlungsinduzierendes Bild vermitteln soll.

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