Über Exaktheit in den Humanwissenschaften

Zwei- bis dreimal im Jahr leiste ich es mir, einen halben Tag in Düsseldorf im Stern-Verlag zu verbringen auf der altmodischen Suche nach Büchern, von denen ich noch gar nicht weiß, dass es sie gibt. Auch dieses Mal – am 22. Dezember – wurde ich fündig. So erstand ich u.a. das Bändchen ‚Die ungeliebte Freiheit – Ein Lagebericht‘ des Philosophen Norbert Bolz. Bolz und auch Sloterdijk beteiligen sich ja rege an den Rückzugsgefechten des nicht erst seit der Finanzkrise schwer unter Beschuss stehenden Liberalismus und der ihm verwandten Ideensysteme. Da mich der Begriff ‚Freiheit‘ – auch im Kontext der modernen Hirnforschung – stark interessiert und ich Herrn Bolz als Produzenten einiger gleichermaßen amüsanter wie scharfsinniger Gedanken im Bereich Medienphilosophie schätzen gelernt habe, war ich umso mehr gespannt auf das Büchlein. Doch seit eben hat mich die Lust verlassen, ich mag nicht mehr und weiß nicht, inwieweit ich den Ausführungen von Norbert Bolz noch trauen kann. Schuld daran ist eine Kleinigkeit. Auf Seite 29 spricht Bolz vom Gehlen-Schüler Gotthard Günther:

Doch Menschen können nein sagen, sich gegen Einflüsse sperren, Motive verwerfen und mit Triebimpulsen fertig werden. Das sind die anthropologischen Hebelpunkte der Freiheit. Der Gehlen-Schüler Gotthard Günther hat in diesem Zusammenhang von den Rejektionswerten gesprochen, die den Charakter als den Ort der Freiheit bilden.

Einmal abgesehen davon, dass letztere Formulierung über den Charakter als Ort der Freiheit zu schwammig ist, um überhaupt etwas auszusagen, ist die Floskel ‚Gehlen-Schüler‘ schlicht falsch. Allerdings ist sie auch nicht neu. Der Ausdruck von dem Gehlen-Schüler Gotthard Günther tauchte zuerst in der bei Sloterdijk eingereichten und später als Buch veröffentlichten Dissertation von Cai Werntgen ‚Kehren: Martin Heidegger und Gotthard Günther‘ auf, und zwar im Klappentext.

Lässt sich die Floskel vielleicht als pseudointelligentes Dawkins-Mem begreifen, ggf. mit einer eingebauten Copy & Paste-Fortpflanzungsmechanik? Ich denke schon, denn so einfach kommt man da nicht drauf, auf den Gehlen-Schüler. Allein ein Vergleich der Lebensdaten ergibt, dass Arnold Gehlen um etwa vier Jahre jünger als Günther ist, nicht gerade ideale Voraussetzungen für ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Es steht fest, dass Günther 1935-1937 Assistent bei Gehlen war. Desweiteren kann man im Werk Günthers an diversen Stellen nachlesen, dass ihn Arnold Gehlens Werk ‚Theorie der Willensfreiheit‘ nachhaltig beindruckt habe. Aus beidem kann jedoch kein Lehrer-Schüler-Verhältnis abgeleitet werden. Spätere Korrespondenz und Helmut Schelskys Laudatio zu Gotthard Günthers 70stem Geburtstag, gehalten auf einem Kongress am 28/29. Mai 1970 in Rheda, belegen etwas anderes. Der Assistent Günther bereicherte die anderen mit seiner überdurchschnittlichen Belesenheit. Man kommunizierte auf Augenhöhe.

Insofern muss es verwundern, es kann m.E. sogar als Schwäche des aktuellen akademischen Systems in den Geistes- oder Humanwissenschaften verstanden werden, dass bei solchen Leuten auf das Beziehungs-Stereotyp Lehrer-Schüler zurückgegriffen wird. Was soll die explizite Nennung des Verhältnisses eigentlich zum Ausdruck bringen? Dass Günthers Arbeiten zum Kontext Gehlens zu zählen sind? Weit gefehlt. Gehlen betätigte sich in erster Linie anthropologisch und sozialwissenschaftlich, Günther philosophisch und logisch.

Sowohl Werntgens Klappentext als auch Bolz‘ eher lapidare – etwas anders wollen wir zur Rettung von Herrn Bolz jetzt mal nicht annehmen – Nennung des Attributs ‚Gehlen-Schüler‘ kann einfach auch als Ausdruck einer gewissen Schlampigkeit oder Nachlässigkeit im Recherchieren verstanden werden. Das ist aber kein wissenschaftliches Arbeiten. Es mangelt an Strenge und Exaktheit des Denkens, Strenge des Denkens im Heidegger’schen und Exaktheit in der Ausführung im Günther’schen Sinn. Würde ein ingenieurmäßiges Pendant in seiner Arbeit vergleichbar vorgehen, dann würden im ICE die Türen rausfliegen. Was sie ja gelegentlich tatsächlich tun. Also Schlamperei überall. Schlamperei auch bei der kleinsten Schweißnaht ist eben keine Kleinigkeit.

Und was gibt’s sonst zu sagen zu Bolz‘ Büchlein? Ich mag jetzt nicht mehr – ein andermal vielleicht. Und da ich manche andere im Buch behandelten Kontexte nicht so genau kenne, wie den Günther-Kontext, woher soll ich wissen, ob Herr Bolz da nicht noch anderswo geschlampt hat?

Aber vielleicht haben die Geisteswissenschaftler innerlich längst akzeptiert, dass sie vielerorts für Schwafelbacken gehalten werden? Jedenfalls ich habe mich damit nicht abgefunden. Denn meine Steuern zahlen deren Lehrstühle – unter anderem.

Gruß, Nick H.

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