Gute Lyrik ist präzise

anlässlich der 15, jetzt 16 Thesen Dirk Baeckers zur nächsten Gesellschaft.
Der Beitrag fand sich hier. Der Blog wurde geschlossen. Daher hier das Update vom 22.12.2011

Gute Lyrik ist präzise. Dies gelegentlich aus dem Blick lassend haben sich Wissenschaftler aller Zeiten im Spielfeld der Poeten versucht, wenn die Fachkontexte in ihren Präzisionsanforderungen allzu quälend wurden, oder wenn sich technische und gesellschaftliche Wirklichkeiten einer verstehenden Modellbildung allzu energisch widersetzten.
Das allerdings produziert noch keine gute Lyrik. Denn für den Poeten gebiert sich die Sinn-Absicht nicht – nie – durch Reduktion des Konnotationsfeldes eines Begriffs, einer Zeichenkombination, sondern vielmehr durch Erweiterung und/oder Verschiebung, durch Aufbrechen der vom Autoren angenommenen vorgängigen Bedeutungen und Assoziationsfelder im Interpretationsraum des Lyrik-Users.

Der profunde Luhmann-Epigone Dirk Baecker schlug jüngst mit 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft auf, die auf den ersten lesenden Blick den Eindruck erwecken, ihre begrifflichen Elemente aus der Fachterminologie der Systemtheorie gewonnen zu haben. D.h. sie erwecken den Eindruck, als Einzelelemente Produkte wissenschaftlichen Nachdenkens zu sein, die – warum auch nicht – hernach einer literarisch-lyrischen Verschraubung unterworfen wurden.

Kann man machen, gleichwohl muss man das nicht.
Nehmen wir einmal These Nr. 3:
„Die Strukturform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die formale Differenzierung, sondern das Netzwerk. An die Stelle sachlicher Rationalitäten treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül, an die Stelle der Wiederholung die Varianz.“

Die Strukturform der nächsten Gesellschaft ist also der Brei. Denn „Netzwerk“ lebt auch begrifflich und zwingend davon, formal differenzier- und identifizierbare Komponenten zu haben. Und an die Stelle der Vernunft tritt das Kalkül (hier Neutrum, also „die Überlegung“),
Baeckers Kalkül.

Und hier kommt These 8:
„Die Wissenschaft der nächsten Gesellschaft ist poetisch und mathematisch. Sie entwirft und berechnet das autonome Objekt. Sie allein ist zuständig für das Neue. Ihre Mathematik einer rekursiven Komplexität tritt an die Stelle des Kalküls, der Geometrie und der Linie.“

Lassen wir das autonome Objekt einmal autonom ganz Objekt für sich sein und wenden uns dem dritten Satz zu, die Mathematik – der Wissenschaft der nächsten Gesellschaft – ist eine der rekursiven Komplexität – also der auf sich gewendeten Komplexität, die per Definitionem in sich schon Rekursivität trägt, sonst wär’s ja ’ne Tautologie, die an die Stelle des Kalküls – hier wahrscheinlich Maskulinum, also der Kalkül – tritt. Wie wär’s mit einem rekursiven Kalkül der Komplexität? Mathe ohne Kalkül, ohne den Kalkül, die Kalküle, geht gar nicht. Ob sich allerdings die Bedingung der wohlgeformten Formel in der Selbstreferenz eines Kalküls aufrecht erhalten lassen wird, ist eine andere Frage. Und die Geometrie schenken wir uns, samt Linie, beide sollen hier eh – und ganz sicher – neben der Komplexität Statisten sein, poetisierende Platzhalter für eine Linearität, die es so nie gegeben hat.

Und weiter zu These 11:
„Die Organisation der nächsten Gesellschaft ist kenogrammatisch. Sie definiert
Leerstellen, die jederzeit anders besetzt werden können. Sie motiviert zu einer Arbeit, die nur in diesem Moment nicht austauschbar ist. Sie engagiert sich für Produkte, die den Kunden binden, indem sie ihn freisetzen.“

Eine Organisation also, die entsprechend der wortgemäßen Übersetzung dieses Neu-Kompositums Keno-Grammatik aus dem Altgriechischen, in der Kunst des Lesens und Schreibens (Grammatik) im Leeren (Kenos) bewandert ist. Dabei weiß Baecker, dass der Begriff Kenogrammatik aus der wissenschaftlichen Kreativität des Logikers Gotthard Günther stammt, der diese Bezeichnung für seine klassischen Logik- und Formkonzeptionen vorgängige Strukturtheorie wählte, die noch nicht durch die Differenz von Form und Inhalt belastet ist und in der insbesondere weder das logische noch das semiotische Identitätsprinzip gültig ist. Orga ohne Form und Inhalt. Was meint Baecker, etwa die aktuelle Bundesregierung? Die aktuellen Wechsel innerhalb der FDP-Rollen legen durchaus einen bestimmten gleichwohl falschen Schluss nahe, was Baecker mit Leerstellen gemeint haben könnte.

Den Rest dieser sowie die restlichen Thesen schenke ich mir.
Von These zu These springende Begriffe, die sich und andere Begriffe referenzieren und sogleich vergessen, was sie vorgängig gerade eben noch referenziert haben. Das funktioniert nicht mal als Lyrik.

Es besteht dennoch kein Grund, Baeckers 16 Thesen nicht als Teaser, als Provokation zu lesen. Schließlich wurden sie vorgängig zu einem Kongress zur Scharfstellung der nächsten Gesellschaft veröffentlicht, der von seinen Besuchern je eine Entrittsgebühr von 1250 Euronen erheben möchte. Von daher gibt es sicher einen gewissen Originalitätszwang – ganz so wie man es aus der Werbung kennt.
Klar, ich habe mich teasen und hier zu diesem kleinen Kommentar hinreißen lassen. Dennoch steht es mir immer noch frei, jetzt und hier abzubrechen. Gute Lyrik geht anders. Gute Wissenschaft auch.

Ich sehe – in meinem eigenen, das sei zugegeben – ebenfalls nach Originalität gierenden Imaginationsraum – vor mir einen immer noch einsamen Zarathustra im Bewusstsein Nietzsches, der sich traurig von seinem Internetschirm ab- und seinem Borges’schen Weltalter-Bücherregal zuwendet, um – ein weiteres Mal – Heideggers Holzwege vom Bord zu nehmen.

Und ich sehe den seinsvergessenen Software-Ingenieur, der sich darum einen Dreck schert und iterativ ein weiteres Mal seinen Compiler anschmeißt, um den neuen Supercash-Algorithmus einem letzten Test zu unterziehen. Dieses Mal wird er wieder die Welt verändern – ganz ohne Lyrik – im Kontingenzraum des formal Möglichen – oder besser – des möglichen Formalen.

Nick Haflinger
Eingestellt von Nick am 19.06.2011 bei editiondaslabor.blogspot.com – Dieser Blog wurde geschlossen. Daher hier das Update.

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