Am Samstag, den 23. November 2019 hielt der Philosoph, Psychoanalytiker und Begründer der Pathognostik, Prof. em. Dr. Rudolf Heinz, einen Vortrag im Rahmen eines interdisziplinären wissenschaftlichen Kolloquiums zum Thema „Identität: das Eigene, das Andere und das Fremde“, veranstaltet vom Verlag „Die blaue Eule“ in Kooperation mit dem Gemeinnützigen Recherchezentrum CORRECTIV – Recherchen für die Gesellschaft im CORRECTIV-Buchladen in Essen. Rudolf Heinz titelte seinen Beitrag „Eindüsterungen zum Identitätsproblem, pathophilosophisch“.
Wir präsentieren die bereits zureichend im Netz beworbene Veranstaltung hier noch einmal separat in einem Blogbeitrag mit Timecodes und stichpunktartigen Kurzzusammenfassungen, denn Rudolf Heinz‘ Referat kann ohne weiteres und über den philosophischen Rahmen hinaus eine soziopolitische und allgemeinpolitische Relevanz unterstellt werden. Die von ihm begründete Pathognostik als radikalisierende Fortschreibung der Psychoanalyse war immer auch Mittel einer differenzierten Diagnostik gesellschaftlicher Verhältnisse.
Timecode 0:00:00 // Rudolf Heinz begann seine Ausführungen zunächst mit einer Entschuldigung. Er könne seinen vorbereiteten Text nicht ablesen, sondern müsse improvisieren aufgrund multipler Augenleiden. Er äußerte sich grundsätzlich über das Altern, das Ausleiern der Organe und bemerkte, er komme sich vor wie eine Karikatur des Ödipus auf Kolonos, blind, lahm und wütend, allerdings ohne Antigone.
Timecode 0:03:12 // Nach ein paar grundsätzlichen Erläuterungen zum Begriff der Identität – unter Vermeidung allzu eingrenzender definitorischer Elemente – weist er ausgehend vom Identitätssatz auf die Axiome der Logik hin, nicht ohne zu bemerken, dass diese mehrfach und zurecht einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wurden.
Timecode 0:08:35 // Darüber hinaus weist er ausdrücklich auf den gelungenen Titel der Veranstaltung hin, der allerdings auch den Haken habe, die Gefahr einer Präjudizierung dessen sein zu können, was die Veranstaltung ethologisch ergeben könne.
Timecode 0:09:50 // Thesenhaft verkürzt stellt Heinz dar, dass das Eigene eo ipso entfremdet ist. Er führt als zusätzliches Indiz sein Vermissen der Einmischung der Psychoanalyse in gesellschaftliche Debatten an, so wie dies früher die Mitscherlichs praktiziert hätten und weist noch einmal deutlich auf Freuds basale Erkenntnis hin: „Wir sind nicht Herr im eigenen Hause“, sein Einspruch gegen das Eigene als die autonome Verfügung über das Selbst.
Timecode 0:13:20 // Fremdheit begegne uns neben dem Inneren im Außen, so Heinz. Und zwar immer dann, wenn man sich motiviert sieht, sich kritisch zu äußern, die moralische Option zu wählen. Dies könne aber auch moralistisch gescholten werden, der Moralismus als paranoische Seuche, als Epidemie, und als Pseudokultur der Begründung der eigenen moralischen Optionen. Schwarzweiß-Malerei setze sich durch, teilweise recht sublim.
Timecode 0:17:33 // Was dagegen gehalten werden könne, sei atopisch, es habe keinen Ort. Heinz schlägt als Strategie des Umgangs mit sich selbst vor, zu überlegen, ob das, was man am Anderen kritisiert, etwas ist, das einen selber bewegt, bzw. das man loswerden will und liefert damit ein ledienschaftliches Plädoyer für ein Moratorium der Besinnung darauf, ob der betreffende kritische Gehalt nicht ein solcher in mir selber ist, den ich desavouiere, den ich loswerden möchte.
Timecode 0:19:20 // Heinz identifiziert dies als Projektion: das was ich selber loswerden will, dem Anderen anlasten, dem sei eine Bereitschaft zur Pause, zum Überlegen entgegen zu setzen. Die projektive Identifikation sei ein Abwehrvorgang, der wie alle Abwehrvorgänge unvermeidlich immer wieder kollabiere. Die Bescherung des Ganzen sei ein Verfolgungsverhältnis, das wesentlich paranoisch ist. Man gerate mit diesem Moralismusvorgang in die Sphäre einer kollektiven Pathologie, genannt Paranoia, die von Heinz zudem als die Universalpathologie unserer kapitalistischen Verhältnisse gesehen wird. Dazu merkt er an, dass diese These eigentlich trivial sei.
Timecode 0:22:50 // Zur Frage „Wie halten Sie‘s denn selber?“ bemerkt Heinz, dass Bescheiden sein sich darin ausdrücke, zu wissen, dass man selber auch dem Moralismus verfällt. Als Gegenstrategie empfiehlt er eine wiederholte Selbst-Neuverordnung des Moratoriums, das sei aber ein mühseliges Geschäft. – In diese Richtung können wir weiterdenken, was die Kritik unseres Wertungstheaters angehe.
Timecode 0:25:05 // Zu unserem Wertungstheater sagt er, dass es verdorben paranoisch bis zum Geht-nicht-mehr sei, aber es sei etabliert und kollektiviert, dann sei es nach Freud angeblich unschuldig. Die Kollektivierung sorge dafür, dass die Abträglichkeit – nur scheinbar – verschwindet.
Timecode 0:25.30 // Vielleicht sei es nicht ganz so schlimm bestellt um den Moralismus. Es gebe immerhin kritische Einsprüche von Seiten der Psychoanalyse, die heutzutage auch nicht so weit gehe, wie er es hier versuche. Es scheint so zu sein, dass wir Gegenführungsmöglichkeiten im Umgang mit unseren Artgenossen haben. Und die Psychoanalyse sagt, dass das zu betonen ist. Die Aufklärungsmöglichkeiten der Psychoanalyse liegen aber einfach brach. Denn wir haben, so die Psychoanalyse, die Chance Reaktionsbildungen an den Tag zu legen, im Sinne von Verkehrungen ins Gegenteil. Wenn es nicht Mord und Totschlag gebe, dann gründe, so Heinz, sich das auf habitualisierten Abwehrvorgängen. Und diese Abwehrvorgänge seien labil.
Timecode 0:29:10 // Zur Behauptung der absoluten Werte sagt Rudolf Heinz: „Vergessen Sie‘s!“ Wenn Werte als absolut behauptet werden, seien das immer Substrate von Gewalt. Empirisch-geschichtlich sei das verifizierbar bis zum Geht-nicht-mehr. Absolute Werte seien die Grundlage von Gewalt, das gelte sogar für die Menschenrechte. Denen würde er es besonders wünschen, dass sie geschützt würden vor ihrer Absolutheitsbehauptung.
Timecode 0:30:10 // Wo sei er jetzt hingeraten? Die Modi der Konterkarierung unserer Identität will er ansprechen. Es gehe um Komponenten, die das Eigene fragwürdig machen müssen. Das Geschlecht, die Generation, der Tod und die Dinge. Es sehe nicht gut aus mit dem Eigenen, so dass man sich selbst zu eigen wäre, das Eigene wird ja schon unterhöhlt durch den psychoanalytischen Begriff des Unbewussten. Aber inwiefern durch das Geschlecht?
Timecode 0:32:12 // Rudolf Heinz führt aus, dass die Dramatik bereits im Mutterleib beginne, und dass da heute Vieles übersehen würde. Von der Zeugung an wird das Geschlecht genetisch festgelegt. Hormonell gesehen seien wir armen Männer auf längere Zeit weiblich. Die Dramtik im Mutterleib bestehe darin, dass sich das genetische Geschlecht gegen das hormonelle durchsetzen muss. Gelinge dies nicht, dann stehe die genetische männliche Identität auf dem Spiel. Die Geschlechtsidentität bis hin zum Phantasma des reinen Manns müsse ein narzisstischer Gewaltakt sein, das ginge gar nicht anders. Und er fragt: „Wo gerät man hin, wenn man diesen konstitutiven narzisstischen Gewaltakt zu vermeiden wüsste? Natürlich in Homosexualität.“ Dies sei bitte nicht misszuverstehen, er sei Consiliarius einer homosexuellen Interessensgemeinschaft gewesen. Was er allerdings nicht duldete, obwohl man da sehr aufpassen müsse, sich nicht verdächtig zu machen, das sei die Aufklärung der Homosexualität, bzw. deren Vermeidung. Die Homosexualität sei tatsächlich ein Angang der Geschlechtsidentität. Die Conclusio sei jedenfalls, dass die Geschlechtsidentität so nicht behauptet werden könne.
Timecode 0:36:08 // Zum Aspekt Generation bemerkt er, es sei doch wunderbar, sich narzisstisch duch Nachkommen zu tradieren, dies sei ja oft das Argument. Dabei würde aber vergessen, dass die Nachkommen zugleich eine Todesverkündigung seien. Dabei sei die Identität beeinträchtigt durch den Einbruch der Sterblichkeit. In Klammern gesagt, sei seine Hauptbefassung mit Psychoanalyse eine Revision des Todestriebs, der späten Freud‘schen Triebtheorie. Erfügt an, man könne manchmal meinen, wir hätten nichts anderes im Sinn, als tatsächlich den Tod zu imitieren, so zu tun, als hätten wir die Potenz des Todes, indem wir durch Gewalt meinen, uns selbst der Sterblichkeit zu entheben. Dies sei eine Kurzfassung des Todestriebs seinerseits.
Timecode 037:35 // Zu den Dingen: Es sei schwierig, die Dinge als Hemmnis der Selbstidetität geltend zu machen, er setze das hier aus, avidiere jedoch, dass das in den letzten Jahren einer seiner Arbeitsschwerpunkte gewesen sei, bzw. eine Einbeziehung der gesamten Dingsphäre in eine Art einer erweiterten Psychoanalyse vorzunehmen. Als Hinweis, wenn das so sei, dass wir darauf aus sein müssen, projektiv identifikatorisch uns unserer Sterblichkeit zu begeben, dann seien die Dinge die Garanten dafür, dass dies wie immer auch nur befreiend vorübergehend möglich ist. Aber wie sind die Dinge dann, sie seien eo ipso Waffen – wenn das zutrifft. Es gehe um die Projektion, das Loswerden, die Selbstbereinigung von Sterblichkeit, wenn dafür die Dinge stehen, dann sind die Dinge tatsächlich wie sie sind … wir rüsten dann. Wir hätten dann keine andere Wahl als zu rüsten und im Endeffekt dann auch Kriege zu führen. Der Tod als die Enteignung schlechterdings sei von sich selbst her plausibel.
Timecode 0:41:00 // Ob dies Eindüsterungen der Identität genug seien? Ihm gehe es darum, dass man um Himmels willen nicht auf Illusionskurs geht. Er wende sich gegen die Moral als paranoische Seuche. Zwei Punkte habe er noch zum Schluss, die Volte direkt sei marxistisch. Er meine das aber nicht freudomarxistisch. Allerdings sei der Marxismus eine Option … dass unsere zivile Identität für alle, die wir hier sitzen, er sei da nicht ausgenommen, dass unsere zivile Identität in unserem Tauschwert bestehe, in nichts anderem. Andere Schlupflöcher seien in unserer gesellschaftlichen Verfassung nicht möglich. Wenn das möglich wäre, wäre es eine Subversion, und diese bleibe aus.
Timecode 0:45:20 // Zum Schluss machte Rudolf Heinz eine Bemerkung zur Kritischen Theorie, sie sei auch von der Bildfläche verschwunden, Philosophie habe nur dann ihre Stunde, wenn da ein gesellschaftlicher Kairos (… ein Gott der Gelegenheit, Anm. d. Hrsg.) bestünde. Philosophie habe meistens Konjunktur nach Katastrophen. Die Kritische Theorie konnte sich behaupten als Nachkriegsphänomen von jüdischen Emigranten. Man solle nicht meinen, wir hätten noch Mitscherlichs, Adornos, Marcuses oder Horkheimers Zeiten.
Ein Verdikt von Adorno: „Utopie wäre die opferlose Nicht-Identität des Subjekts.“ Da würde man sofort sagen, das sei eine verfehlte Formulierung für Psychose. Nach Adorno: Das menschliche Leid ist so unermesslich groß, dass wir die Neigung haben, aus der Menschheit selber zu fliehen. Er, Rudolf Heinz, würde darauf insistieren, dass das menschliche Leid tatsächlich so groß ist und dass auch Adorno wusste, dass die Flucht in ein Niemandsland führt.
Dies sei der Schluss der Rede, hell geworden sei es nicht.
Entsprechend individueller kognitiver Verfassungen von uns Individuen rät der Heraugeber, das Video anzuschauen und sich nicht allein auf seine schriftliche Verdichtung zu verlassen, die ganz zwangsläufig immer auch eine Reduktion sein muss.
Mit besten Grüßen, Ihr
Joachim Paul (Hrsg.)
Dies ist ein Testkommentar.